Manchmal kann ein Name so bekannt sein, dass die Person dahinter fast verschwindet. Ari Folman illustriert das, wenn er in seinem Animationsfilm „Wo ist Anne Frank“ die rothaarige Kitty auf die Straße des heutigen Amsterdam treten und nach ihrer Freundin fragen lässt. Anne Frank ist überall: Hier die Anne-Frank-Brücke, da das Anne-Frank-Gymnasium, dort das Anne-Frank-Hallenbad – es nimmt kein Ende. Kitty ist verwirrt: Wo steckt denn nun die Tagebuch-Autorin? Und was ist mit ihr geschehen?
Kitty – das ist die Kunstfigur, die sich Anne Frank als Ansprechpartnerin für ihr Tagebuch ausdachte, das sie in den Jahren führte, als sie sich mit ihrer Familie im besetzten Amsterdam vor den Nationalsozialisten 1942-1944 verstecken musste. Ari Folman nutzt die Kunstfigur nun seinerseits als Vermittlerin, um einem jugendlichen Publikum von heute – der Film richtet sich an Zuschauer ab zwölf Jahren – vom Schicksal Anne Franks zu erzählen. Und mehr noch: sie dient ihm auch dazu, einen thematischen Anschluss an Probleme der Gegenwart zu knüpfen.
Wie kann man das Thema Anne Frank einem jüngeren Publikum erschließen?
Die Methode funktioniert erstaunlich gut: Zu Beginn wird auf diese Weise das Anne-Frank-Museum vorgestellt, in dem sich täglich Besucher aus aller Welt tummeln. An einer Stelle fragt ein Junge seine Mutter, wer denn die Menschen auf den Schwarzweiß-Fotos seien, die Anne Frank an ihrer Wand im Versteck hängen hatte. Es seien Filmstars von früher, antwortet die Mutter, aus einer Zeit sogar vor ihrer eigenen Geburt.
Aber bedeutet das, dass sich die Menschen von heute nicht mehr mit Anne Frank identifizieren oder keinen Anteil an ihrem Schicksal mehr nehmen könnten? Folman macht sich die Antwort auf diese Frage nicht so leicht, wie man zunächst vermutet. Statt auf einschlägige Formulierungen über die Einzigartigkeit des Holocaust und den Fanal-Charakter dieses Menscheitsverbrechens zurückzugreifen, verkompliziert er die Lage.
Als Kitty nämlich wie aus der Zeit gefallen im Museum der Gegenwart erwacht und auf die Suche nach ihrer Freundin Anne geht, stößt sie ihrerseits auf Flüchtlinge und Illegale im heutigen Amsterdam. Wobei der Film das plumpe Parallelisieren vermeidet: die Polizei der Gegenwart hat nichts gemeinsam mit den finsteren, gleichgeschalteten Horden, an denen sich die kleine Anne in den 40er Jahren vorbei schleichen muss.
Kitty bemerkt bald, dass sie nur lebensfähig ist, solange sie Annes Tagebuch mit sich führt. Nur mit Tagebuch ist sie auch für andere sichtbar, das entdeckt schließlich Peter, den Kitty als kleinen Museumsdieb ausmacht und der ihr fortan bei der Orientierung in der Gegenwart hilft. Um ihre Frage nach Annes Verbleib zu beantworten, muss sich Kitty aber immer wieder an das Tagebuch selbst wenden. So rekapituliert der Film im chronologischen Hin und Her die letzten Jahre der Anne Frank, vom Einzug ins Versteck bis zum Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen.
Der Film drückt sich davor, den Tod von Anne Frank zu erzählen
Die Schilderungen von Annes Alltag machen zweifellos den stärkeren Part von Folmans Film aus. Es gelingt ihm, die ikonographische Gestalt der Anne Frank, deren Schwarzweiß-Porträt so bekannt ist wie ihr Tagebuch, auf sehr elegante Weise lebendig und farbig werden zu lassen. Und nicht nur sie, auch Mutter, Vater und Schwester sowie die von Anne so ungeliebte Familie der Van Pels’, mit denen sie sich das enge Versteck teilten, werden zu ausdrucksstarken und nuancenreichen Animations-Charakteren.
Gleichzeitig hält sich der Film sehr genau an das, was Anne in ihrem Tagebuch thematisiert, und später die Welt so faszinierte: die alltäglichen Situationen mit der Familie, die vielen zwiespältigen Gefühle, die das junge Mädchen umtreiben, und die sie mit solcher Präzision und psychologischer Reife beschreiben konnte.
Wie um dem Geist Anne Franks treu zu bleiben, drückt sich der Film schließlich auch nicht davor, von ihrem Tod zu erzählen. Mit Rücksicht auf das junge Publikum geschieht das aber ohne die Schreckensbilder aus dem KZ, auf eher abstrakte Weise. Sein gesetztes Ziel, die nachwachsenden Generationen für Anne Frank zu interessieren, erreicht der Film allemal.
Animationsfilm Belgien/Frankreich/Israel 2022, 104 min., von Ari Folman