Wenn man in der Weltliteratur ein Musterbeispiel für Trägheit sucht, wird man bei Iwan A. Gontscharows „Oblomow“ fündig. Ein russischer Adliger, der nur um sich selbst kreist und jeden Tag gemütlich im Morgenmantel auf einem Diwan verbringt. Während der Pandemie wäre er wohl ein vorbildlicher Bürger gewesen. In normalen Zeiten indes wirkt seine Untätigkeit eher parasitär. Oder etwa doch nicht? Schauspielerin und Grimme-Preisträgerin Susanne Bormann sieht die Couch-Potato mit Hang zur Lethargie und Seelenschmerz durchaus differenzierter. Sie spielt mit Oblomows Mutter und Agafija Matwejewna gleich zwei Rollen in der Bühnenadaption von André Markowicz und dem französischen Regisseur Volodia Serre, die am 24. Februar im Renaissance Theater Premiere feiert. Für die 43-Jährige aus Kleinmachnow, die bereits in über 60 Filmen vor der Kamera stand, ist es ein aktueller Stoff, mit dem sie sich intensiv auseinandergesetzt hat.
Im „Oblomow“ stehen Sie erstmals im Renaissance-Theater auf der Bühne. Wie kam die Zusammenarbeit zustande?
Ich habe im letzten Herbst nach über sieben Jahren mit „Gaslicht“ von Patrick Hamilton zum ersten Mal nach der Geburt meiner beiden Kinder wieder eine Theaterproduktion gemacht und war begeistert. Davor habe ich mir immer einmal pro Jahr eine schöne Theaterproduktion gesucht, weil ich es sehr geliebt habe, bei der Theaterarbeit in die Tiefe gehen zu können. Parallel mit den Kindern habe ich das nicht hinbekommen. Mich hat es aber schon länger interessiert, etwas am Renaissance-Theater zu machen. Gerade jetzt mit Guntbert Warns, dem neuen Intendanten. Als ich mit meinem Kollegen Christian Schmidt einen „Tatort“ unter der Regie von Kai Wessel gedreht habe, sprachen wir darüber. Er bot an, Guntbert Warns von meinem Interesse zu erzählen und prompt kam Ende letzten Jahres, recht spontan, diese schöne Aufgabe. Es war also kollegiale Unterstützung. Jetzt ist es großartig, das erste Mal in Berlin Theater spielen zu können. Davon habe ich lange geträumt.
Kannten Sie Gontscharows Roman schon vor der Inszenierung?
Nein. Aber ich bin begeistert von diesem berührenden, humorvollen und hochaktuellen Stoff. Diese Lähmung in Anbetracht der tausend Möglichkeiten, die wir heutzutage haben, und allem, was wir sein oder leisten sollen, empfinden viele. Einige versetzt der Erwartungsdruck in eine Schockstarre. Sie sehnen sich nach einem überschaubaren Leben, in dem alles seinen geregelten Gang geht. Auch klingt darin eine Weigerung an, erwachsen zu werden und in letzter Konsequenz die Verantwortung für das eigene Leben zu schultern. Das kenne ich auch von mir selbst. Beim Lesen des Stücks habe ich immer wieder Oblomow in mir entdeckt.
Inwiefern?
Es ist die Sehnsucht danach, dass jemand kommt, einen an die Hand nimmt und begleitet. Ich glaube, dieser Wunsch ist stark bei vielen, weil oft die Orientierung fehlt. Man weiß nicht, wohin. Die Vernunft steht dann meist gegen das, worauf man vielleicht Lust hätte. Das ist mir früher auch schwer gefallen.
Was hat sich bei Ihnen geändert?
Wenn man Kinder bekommt, wird man von heute auf morgen eigentlich selber noch mal erwachsen. Man muss auf einmal die Gegebenheiten erfüllen und kann nicht mehr nach Lust und Laune das machen, was man spontan so möchte. Wir haben zudem gerade ein Haus gebaut. Das ist noch mal etwas anderes als eine Wohnung. Ich habe noch nie in meinem Leben etwas derartig Erwachsenes gemacht. Man kann dann wirklich nicht mehr in den Tag hineinleben kann und sagen, ach, die Sonne scheint, ich gehe einfach mal raus. Man ist gezwungen, zu jeder Tages- und Nachtzeit die Dinge zu tun, die getan werden müssen. Für mich war das ein weiterer Crashkurs im Erwachsenwerden.
Sie spielen im Stück Oblomows Mutter. Hat sie es verabsäumt, ihm Verantwortung beizubringen?
Spoiler-Alert: Sie gibt ihm das, was er will. Er hatte eine sehr behütete Kindheit. Das Leben kann einem Angst machen, wenn einem immer alles abgenommen wurde. Bestimmt nicht das Beste, um einen Menschen darauf vorzubereiten, dass Leben auch bedeutet, Fehler zu machen, zu scheitern, aus Fehlern zu lernen, hinzufallen und wieder aufzustehen. Das ist eine der wichtigsten Erfahrungen, die man machen kann. Zu lernen, mit Frust umzugehen. Und überhaupt Entscheidungen für sich zu treffen. Egal, ob die richtig sind oder nicht.
Ist Oblomow demnach einfach nur nicht erwachsen geworden?
Im „Oblomow“ werden zwei Lebensentwürfe gegenübergestellt. Zum einen ist da sein Freund Stolz, der für Fortschritt und Karriere steht. Der sagt, man muss etwas erreichen, was erleben und rausgehen. Zum anderen ist da Oblomow, der sich fragt, warum eigentlich. Alles, was ihr macht, ist ohne Liebe und total inhaltslos. Er möchte mit seiner Frau Spazierengehen, mit ihr Tee trinken und über das Land gucken. Eine ganz tiefromantische Vorstellung von Verbundenheit, Frieden und Ruhe.
Klingt nach einem sehr heutigen Dilemma.
Ja. Auf den ersten Blick denkt man, der Typ kriegt nichts hin. Auf den zweiten, dass er vielleicht recht hat. Was soll das Gerenne nach mehr Erfolg, nach höher, schneller, weiter? Eine Spirale, mit der wir letztlich Gefahr laufen, unsere kostbare Erde und somit unsere eigene Lebensgrundlage zu zerstören. Das Theaterstück ist so wunderbar, weil es keine Entscheidung zwischen diesen Haltungen trifft. Es wirft vielmehr spannende Fragen auf. Danach, was das richtige Leben ist und wie wir leben wollen.
Renaissance-Theater, Knesebeckstr. 100, Charlottenburg, Tel. 312 42 02, Voraufführung 22. 23.2. um 19.30 Uhr, Premiere 24.2. um 19.30 Uhr