Berlinale

Griechische Gesänge an Berliner Badeseen

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Eberhard von Elterlein
Ups, weg ist das Rad: Der erste von vielen Unfällen, die das Leben von Jon (Aljocha Schneider, r.) begleiten.

Ups, weg ist das Rad: Der erste von vielen Unfällen, die das Leben von Jon (Aljocha Schneider, r.) begleiten.

Foto: -- / dpa

Angela Schanelec verlegt in „Music“ den Ödipus-Mythos in die heutige Zeit. Dabei geht es auf eine Reise von Griechenland nach Berlin.

Wahrscheinlich könnte man mit den Leerstellen, die Angela Schanelecs Wettbewerbsbeitrag „Music“ hinterlässt, locker eine Netflix-Serie drehen, in drei Staffeln. Da könnte man dann erfahren, wie Jon (Aliocha Schneider), dessen wechselvolle Geschichte hier erzählt wird, eigentlich so aufwächst, zum Beispiel als Adoptivkind, nachdem er in einer nebeldräuenden Gewitternacht irgendwo in den griechischen Bergen vom Sanitäter Elias als Baby aus einem Steinhaufen gerettet wird.

Wie er denn die jungen Menschen kennengelernt hat, mit denen er etwa 20 Jahre später an der griechischen Küste einen Autounfall hat, was schließlich in einem Totschlag, Gefängnis und dort zur Liebe mit der Aufseherin Iro (Agathe Bonitzer) und der Entdeckung der titelgebenden Musik führt, die den jungen Mann fortan begleiten wird. Wir hätten in der Serie weiter erfahren, wie es Jon dann auf einmal nach Berlin verschlagen hat, wo er mit Tochter Phoebe auf einem Roller durch Mitte fährt, er Musik in einem Studio aufnimmt oder vor Publikum singt, im See badet. Und je mehr er das Leben zu genießen scheint, umso weniger vermag er die Welt wahrzunehmen, denn Jon erblindet zunehmend. Womit wir dann spätestens beim Ödipus-Thema sind. Der Erblindung mit der Erkenntnis, dass es ja sein Vater war, der da plötzlich tot auf einem Stein mit dem Blutfleck lag, dass es seine Mutter war, die er im Gefängnis kennenlernt und dass er als Adoptivsohn diverse Schicksale erleiden muss, um an diesen zu wachsen, je mehr er sein Augenlicht verliert.

Großer Serienstoff, theatralisch. Und bekanntlich nicht das Kino von Angela Schanelec, eine der großen Vertreterinnen der „Berliner Schule“. Vielmehr eine Meisterin der Reduktion und der Ellipsen, der Symbole und Signale, der bedeutsamen Blicke und des Geschehens am Rande, der Interaktion von Tönen und Bildern und von Menschen in Räumen. Die Filmemacherin hat schon immer ihre wahren Geschichten jenseits des Bildes erzählt. In „Das Glück meiner Schwester“ und „Plätze in Städten“, in „Mein langsames Leben“, in „Marseille“ oder „Orly“ und zuletzt 2019 in „Ich war zuhause, aber ...“, für den sie bei der Berlinale den Regiepreis gewann. Es ging um Menschen in Städten und die Laute der Straße, die in das Bild hineinpfiffen. Und wie der sichtbare Eindruck und der Ton von außen zu einer neuen Einheit verschmolzen, die von Einsamkeit erzählte, von Sinnsuche und der Poesie der Langsamkeit. Mit dem Kino von Angela Schanelec lernten wir hier sehen und dort hören.

Jetzt ist sie mit „Music“ zum zweiten Mal im Wettbewerb, und wieder gibt es diese inhaltlichen Sprünge und die Fokussierung auf Details. So fängt es dramatisch mit der Rettung des Babys an, doch schon sind wir in der Gegenwart bei einem Golf, der auf einem Feldweg ein Rad verliert und der nun erwachsene Jon sein altes Leben, als er zum Mörder wird. Im Gefängnis sehen wir dann seine Aufseherin Iro beim Kreuzworträtseln, während sich Jon seine wunden Füße wäscht und in einem Kassettenrekorder Barockmusik entdeckt. Iro und Jon bekommen eine Tochter, aber die Wahrheit über Jons Vergangenheit kommt ans Licht, feierlich wird ein Sarg aus dem Haus getragen. Wo wir plötzlich im trubeligen Berlin landen, es gibt wieder einen Unfall, es wird gebadet wie in Griechenland und viel gesungen. Von Liebe und Tod, vom Wasser, das fließt, und vom Leben, das vergeht. Und so pickt man sich diese vielen Verweise und Signale zu einem eigenen kleinen Film im Kopf zusammen, bisweilen mutwillig kunstvoll, aber auch von erhabener Schönheit das alles. So entsteht Kopfkino, spannender als jede Serie, die keine Leerstellen lässt.

Termine: 22.2. 10 Uhr, Cubix 1, 22.2. 21.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele, 26.2. 9.30 Uhr,. Zoo-Palast