Die Komische Oper zeigt Kurt Weills Kinderoper „Tom Sawyer“ als ein Bilderbuch aus der US-Pionierzeit.

Ein riesiger Mississippi-Dampfer, schwüle Südstaaten-Atmosphäre am Ufer von New Orleans, Kindersolisten, der Kinderchor und erwachsene Sängerdarsteller im abgetragenen, verstaubten Gewand der US-Pionierzeit: Die Kinderoper „Tom Sawyer“ an der Komischen Oper gibt sich anders als viele der hier neu produzierten Kinderopern, die seit 2006 jährlich auf der großen Bühne des Hauses zu sehen sind. Die Oper mit den zwei eigensinnigen Jungen Tom Sawyer und Huckleberry Finn im Zentrum ist ein bisschen weniger bunt. Die Regie von Tobias Ribitzki schaut ein bisschen weniger darauf, dass sie auf allen Ebenen modern, heutig, großstädtisch ist und Erfahrungen der Berliner Schuljugend adäquat widerspiegelt. Und das Frauenbild ist auch nicht ganz auf der Höhe. Die Vorlage, der Jugendbuchklassiker von Mark Twain, stammt nun mal aus dem Jahr 1876.

Aber auf all dem zu insistieren, hieße, einen Königsweg vorzugeben, wie eine gute Kinderoper zu funktionieren hat. Der Königsweg würde wohl nicht vorsehen, dass Killer Joe in Gestalt des Komische-Oper-Baritons Christoph Späth auf einem gruseligen Friedhof einen Mord auf offener Bühne begeht – den er hinterher seinem alkoholisierten Kumpel Muff Potter (Carsten Sabrowski) in die Schuhe schiebt. Der Königsweg würde wohl auch nicht vorsehen, dass die sängerisch und darstellerisch virtuosen Tom Schimon als Tom und Michael Heller als Huck dem hervorragenden, vor allem weiblichen Jugendchor die Show stehlen dürfen. Und romantisch vor sich hinschmachtende Mädchen wären heute auch nicht mehr im Programm.

Das allerdings wird von der Sopranistin Josefine Mindus am Ende hemdsärmelig aufgefangen, und natürlich darf sie mit Tom Sawyer und Huckleberry Finn Angeln gehen. Ihre Figur Becky Thatcher, Tochter des Dorfrichters, fängt, bevor der jubelnde Schlussapplaus einsetzt, noch schnell einen besonders großen Fisch. Dass das Stück bei der Komischen Oper bestens aufgehoben ist, zeigt der Umgang mit der erkälteten Altistin Caren van Oijen: Als Tante Polly wird sie sängerisch von Kinderchorleiterin Dagmar Fiebach gedoubelt, sprecherisch von Souffleurin Elise Kaufman – eine beeindruckend professionelle Ensembleleistung des Hauses.

„Tom Sawyer“ spiegelt die Erfahrungen von Großstadtkindern

Draußen tobt die Zielgruppenanalyse – souverän ist als Opernmacher, wer das weniger in der Excel-Tabelle als im Blut hat. „Tom Sawyer“ spiegelt vielleicht nachhaltiger als andere Stücke die Erfahrungen von Großstadtkindern: Kinder, die bei ihren ersten Besuchen einer Live-Bühne eine packende Geschichte mit plastischen, nachvollziehbaren Figuren erleben wollen – aus einer vergangenen Zeit, die ihrer eigenen Lebenswelt vielleicht gerade nicht aufs Haar gleicht. Jugendliche, die gewohnt sind, Musik nach den Algorithmen ihrer sozialen Netzwerke vorgeschlagen zu bekommen und jetzt mächtige Live-Klänge aus dem Orchestergraben erleben, die fremd und mitreißend zugleich sind.

Der Kinderchor der Komischen Oper und die Solisten in Kurt Weills „Tom Sawyer“.
Der Kinderchor der Komischen Oper und die Solisten in Kurt Weills „Tom Sawyer“. © Barbara Braun

Die Musik stammt von Kurt Weill – und vielleicht deshalb ist dieser Kinderopern-Nachmittag so verschieden von den vielen neuen Kinderopern-Partituren. Ein „Tom-Sawyer“-Musical von Kurt Weill hätte es im Jahr 1950 nur beinahe gegeben. Anfang des Jahres begann der deutsch-jüdische Exilant Weill in New York gemeinsam mit den US-Autoren Maxwell Anderson und Ira Gershwin mit der Arbeit an dem Stück – verstarb jedoch im April tragisch und überraschend an Herzversagen. Gerade mal fünf Nummern des geplanten Musicals wurden fertig.

Kurt Weill kennt man in Deutschland weiterhin vor allem über die Bertolt-Brecht-Opern „Dreigroschenoper“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Doch er hatte als genialer Broadway-Komponist in den USA nach seiner Flucht 1935 dermaßen viel flexibel einsetzbare Musik geschrieben, dass es 2014 für den Dramatiker John von Düffel ein Leichtes war, den noch „trockenen“ Text dieses „Tom Sawyer“ zu modernisieren. Und aufzuzeigen, wo und welche Musik noch hinzugenommen werden könnte. 2014 ging das Ganze erstmals in Göttingen an den Start. Nach einigen anderen Produktionen ist es in Berlin mit vollem Opernorchester zu erleben.

Die Friedhofsszene überzeugt musikalisch in ihrer New-Orleans-Manier

Dirigent Kai Tietje lässt das Orchester im Graben gleich in der Ouvertüre mit Broadway-Flair aufrauschen – Weills herb-trockene Dreigroschen-Klänge sind da weit entfernt, aber über die Dauer des Abends macht sich die Sogkraft seiner geradlinigen Musik subtil bemerkbar. Musikalisch besonders gut gerät die Szene auf dem Friedhof, die in New-Orleans-Manier von einer typischen Mardi-Gras-Combo aus Posaune, Horn und Sousaphon eingeleitet wird – wenn die Instrumente auch nicht so verbeult wie dort sind und die Musik vom Europäer Weill stammt.

Das Opernhaus tritt hier selbstbewusst auf und besinnt sich auf seine traditionellen Qualitäten: Regisseur Ribitzki braucht keine Menschen in Tierkostümen, keine pantomimischen Einlagen, kein Konfetti – Ribitzki hat Kurt Weills Sinn für szenisches Tempo perfekt verinnerlicht und schöpft daraus. Hinter den grau-ockerfarbenen Kulisse von Stefan Rieckhoff, der die amerikanische Pionierzeit unauffällig in Bild und Kostüm bannt, leuchtet die Musik Kurt Weills, eines Solitärs der europäischen wie der US-amerikanischen Musikgeschichte. Man macht diese Erfahrung bei diesem rekonstruierten „Tom Sawyer“ wie nebenbei. Vielleicht deshalb ist sie um so prägender.

Komische Oper, Behrenstr. 55-57, Mitte. Tel. 47997400 Termine: 20.2., 5., 10., 13.3. 19., 24. und 29.4.