Im Bode-Museum wird 500 Jahre alte Gliederpuppe aufbewahrt. Diente sie der Kunst, der Wissenschaft oder ganz anderen Zwecken?
Während die anderen Nackten in Raum 219 („Deutsche Renaissance“) des Bode-Museums lasziv tänzelnd posieren, sitzt sie ganz entspannt hinter der Vitrine auf einem Quader, lässt die Beine baumeln und schmunzelt in sich hinein. Gleich daneben bezirzt auf einem Cranach-Gemälde Eva ihren Adam mit spitzen Brüsten, die Scham keck hinter einem Blätterzweig versteckt. Zentraler im Raum balanciert eine üppige Fortuna aus Augsburg auf einer Kugel und schwingt ein Tuch, das wie zufällig ihr delikates Dreieck verhüllt. Nicht so die Sitzende: Bedeckt (mit einer zeittypischen Haube) ist nur das hoch gesteckte Haar. Sie scheint sich ihrer Nacktheit nicht zu schämen, sondern zeigt wie selbstverständlich ihr extravagant frisiertes Schamhaar, das zum Nabel hin spitz zuläuft. Zwischen den Beinen ist eine rot eingefärbte Aushöhlung, die vom feinen Schnitzstil abweicht.
Ein raffinierter Mechanismus mit Schnüren aus Naturdarm
Aber nicht nur das ist ungewöhnlich an der knapp 22 Zentimeter großen Kleinplastik aus Buchsbaumholz, einem der härtesten und kompaktesten Hölzer überhaupt. Die Figur ist eine Gliederpuppe, zusammengesetzt aus 57 Einzelteilen, die über Kugel- und Zapfengelenke verbunden sind und so Beweglichkeit bis in Fingerglieder und Zehen garantieren. Zusammengehalten werden die Teile von elastischen Schnüren aus Naturdarm, die über innere Kanäle im Kopf zusammenlaufen und dort über einen gut getarnten Deckel gespannt werden können. Der Mechanismus funktioniert heute noch wie vor 500 Jahren. Man könnte die Figur als Winkende inszenieren oder in den Startlöchern eines Hundertmeterlaufs.
Gliederpuppen kennt man aus Künstlerateliers, als Hilfsmittel, um die Bewegung des menschlichen Körpers zu studieren oder als Spielzeug für Kinder. Beides trifft in diesem Falle nicht zu. Die Figur ist viel zu fein gearbeitet, zu kostbar für eine Malerwerkstatt - und viel zu realistisch nackt für ein Kind der frühen Neuzeit.
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Für den Kunsthistoriker Markus Rath handelt es sich deshalb um eine Sonderform der Gliederpuppe, losgelöst von einem Anwendungszweck und somit selbst ein Kunstwerk, gearbeitet wahrscheinlich im Auftrag privater Sammler und Teil einer zwischen 1520 und 1530 entstandenen Werkgruppe aus sechs erhaltenen und drei verschollenen Stücken, darunter ein Pärchen, das seit dem Zweiten Weltkrieg aus der Berliner Akademie der Künste verschwunden ist.
Der Künstler, von dem nur das Monogramm I. P. bekannt ist, stammt aus dem süddeutschen Raum, wahrscheinlich aus Passau. Er war ein Zeitgenosse Albrecht Dürers und orientierte sich an dessen an der Antike geschulten Menschenbild: Der Kopf hat gemäß Proportionslehre achtmal im Körper Platz. Dürer war übrigens der erste Mensch diesseits der Alpen, von dem Studien mit Gliederpuppen bekannt sind. Weshalb ein cleverer Verkäufer die Holzplastik um 1870 auch als Werk von Dürer selbst anbot. Um die Provenienz noch spannender zu machen, gab er das berühmte Praunsche Kabinett in Nürnberg als Ursprung an, ein frühes Beispiel für eine bürgerlich-private Kunstsammlung.

Die Puppe war nicht für die Holzschachtel bestimmt
Damals kam die Gliederpuppe von Wien über mehrere Zwischenhändler nach Berlin, zunächst in die Königliche Kunstkammer und nach deren Auflösung ins damals neue Kunstgewerbemuseum. Die verschollene weibliche Puppe aus der Akademie hingegen war zu diesem Zeitpunkt bereits seit knapp 100 Jahren in der Stadt, sie war ein Geschenk der „schönen Wilhelmine“ oder Gräfin Lichtenau, die als Geliebte des Königs dessen Beraterin in Sachen Kunst war und selbst Mäzenin und Sammlerin.
Dass aber so ein Objekt nicht unbedingt für eine gläserne Vitrine bestimmt war, davon zeugt beispielsweise eine Holzschachtel, die aus dem Prado in Madrid dokumentiert ist. Sie gehörte zu einer männlichen Figur der Werkgruppe, die sogar Mund und Zunge bewegen kann. Vielleicht nun hat der anatomisch interessierte Sammler die Puppe im Kästchen verwahrt und sie ab und zu zusammen mit ihrem männlichen Pendant herausgeholt. Denn es ist anzunehmen, dass sie ursprünglich als Pärchen gesammelt wurden.
Was er nun damit gemacht hat? Markus Rath spricht von einem ästhetisch-haptischen Erlebnis an der Schnittstelle zwischen Naturwissenschaft und Kunst. Also perfekt für eine Kunstkammer, die sich genau dafür interessierte: schöne Dinge auf der Höhe von Wissenschaft und Technik. Zugleich perfektes Studienobjekt für den menschlichen Körper und ein Artefakt, das man mit den Händen formen kann und so selbst zum Künstler wird. Mehr in Richtung Handschmeichler oder gar „galantes Spielzeug“ wie es die Kunsthistoriker gerne umschreiben, verweist aber das nachträglich ausgehöhlte Geschlecht der Berliner Gliederpuppe. Auch wenn der Künstler das nicht im Sinn hatte, für manch einen mag so ein erotisches Liebespüppchen mit semmelrunden Brüsten abseits von Gelehrsamkeit und hoher Kunst ein netter Zeitvertreib gewesen sein.