Gravitätisch und beinahe apathisch kommt er auf das Podium der Philharmonie gewandelt, sortiert die Noten, die wie Erstdrucke aussehen oder als seien sie seit wenigstens fünfzig Jahren in Benutzung, und setzt sich dann auf die Bank, nimmt erst kurz vor dem Auftakt die Maske ab. Was folgt, ist auch ziemlich gespenstisch. Die Polonaise-Fantasie As-dur erobert sich tastend den Raum, tritt zögerlich wie aus weiter Ferne kommend hervor. Ivo Pogorelich spielt nicht Chopin, er zelebriert ihn: eine Meditation! Von Offenbarung zu sprechen, wäre übertrieben, aber erleuchtend ist sein Auftritt allemal.
Auf dem Programm stehen ausschließlich Spätwerke des polnischen Giganten, subtile, versponnene, schwer zugängliche Gebilde, die Improvisationen gleichen, die wie Erinnerungen an Musik klingen, aus merkwürdigen Träumen aufsteigend und in ihnen wieder versinkend. Das Hauptstück ist die 3. Klaviersonate h-moll, ein Monument fernab von Heroismus und Exzentrik. Wie geschaffen für Pogorelich, der jede Pose meidet, so unspektakulär wie möglich agiert, hinter dem Werk zurücktritt und es dennoch auf einzigartig individuelle Weise zu gestalten versteht. Sein Legato und Non-Legato und sein Klavierton, was man bis vor kurzem noch Anschlag nannte, kurz: seine Technik ist über jeden Zweifel erhaben.
Pogorelich kam nach dem Warschauer Chopin-Wettbewerb zu Weltruhm
Kritisiert wird Pogorelich für seinen freizügigen Umgang mit den Tempi und der Dynamik. Man wirft ihm Manierismus vor seit über vierzig Jahren. Tatsächlich erleben wir bei ihm eine geistige Durchdringung, von der die zackigen Starpianisten unserer Tage überhaupt keine Ahnung mehr haben. Pogorelich vermag der Mittelstimme und den höheren und tieferen Lagen eigene Räume zu eröffnen, sie scheinen aus unterschiedlichen Winkeln des Saales zu ertönen und führen ihr Eigenleben, bis sie sich zu mal brillanter, mal abgründig schroffer Polyphonie vereinigen. Dies wurde besonders deutlich im Finale der Klaviersonate, auch in der Fantasie f-moll op. 49. Gänzlich nach innen gekehrt, bei aller geforderten Virtuosität, ergänzten die Berceuse Des-dur und die Barcarolle Fis-dur ideal das anspruchsvolle Programm.
Pogorelich kam 1980 über Nacht zu Weltruhm, als ihm beim Warschauer Chopin-Wettbewerb der erste Preis verweigert wurde, woraufhin Martha Argerich, die ihn als Genie bezeichnete, aus der Jury zurücktrat. Seitdem irrlichtert der in Belgrad geborene Kroate durch den Musikbetrieb, gefeiert und gescholten, von persönlichen Krisen geschüttelt, aber nie aufgebend. Seinen Beethoven und Schubert muss man nicht unbedingt haben, seinen Schumann und Brahms schon eher. Doch das Zentrum seiner Kunst bildet nach wie vor Frédéric Chopin. Wilhelm Furtwängler (man stelle sich vor: Furtwängler!) war der Auffassung, dass nur ein einziger ausländischer Komponist auf der gleichen Höhe stehe wie die großen Meister der Klassik und Romantik: Chopin! Wer ihn mit Pogorelich hört, glaubt das sofort. Er ist der originellste, größte Chopin-Pianist unserer Zeit – und wird es lange bleiben.