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„Die Aussprache“: Eine Frage der Selbstbehauptung

| Lesedauer: 5 Minuten
In der Scheune kommen die Frauen des Dorfes zusammen. Und thematisieren unsagbare Dinge.

In der Scheune kommen die Frauen des Dorfes zusammen. Und thematisieren unsagbare Dinge.

Foto: Universal / Michael Gibson

Eindringliches Kammerspiel über Frauen, die nicht länger Opfer sein wollen: der für zwei Oscars nominierte Film „Die Aussprache“.

Vergebung gehört zum Glauben. Und ist vielleicht die größte Prüfung. Aber kann man wirklich vergeben, was diesen Frauen in einer abgeschiedenen mennonitischen Gemeinde geschehen ist? Über Jahre wurden immer wieder einige von ihnen des Nachts betäubt und vergewaltigt. Hinterher behaupteten die Männer des Dorfes, es seien Einbildungen oder Dämonen gewesen, man unterstellte den Opfern sogar, sich nur wichtig zu machen. Dann aber wird einer der Peiniger ertappt. Er nennt weitere Namen. Und alle stammen aus der Gemeinde. Ein Schock für die Frauen.

Frauen haben sich zu fügen - oder müssen gehen. Auch nach Übergriffen

„Die Aussprache“ basiert auf dem gleichnamigen Roman der Kanadierin Miriam Toews, die selbst bei Mennoniten, einer evangelikale Freikirche, aufwuchs und reale Begebenheiten verarbeitete, die 2009 in einer Gemeinde in Bolivien geschehen sind. Nun hat Sarah Polley den Roman fürs Kino adaptiert. Und absolviert damit ein fulminantes Comeback. Hat sie doch seit zehn Jahren keinen Film mehr gedreht.

Die unfassbaren Geschehnisse werden dabei gleich in den ersten Minuten erzählt, von einer Stimme aus dem Off. Die Männer sind dann auch alle weg, um die Übeltäter der Polizei in der Stadt zu überstellen. Sie kehren allerdings in zwei Tagen zurück. Und fordern die Frauen auf, den Tätern zu vergeben – ansonsten müssen sie die Gemeinde selbst verlassen.

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Der Trailer zum Film: „Die Aussprache“

Die Frauen haben also ganze zwei Tage, um sich zu beraten, auf dem Heuboden der Dorfscheune. Das ist der eigentliche Film. Der deutsche Titel „Die Aussprache“ ist dafür fast zu schwach. Der Originaltitel „Women Talking“ trifft es viel besser. Denn die Gemeinde lebt sehr gottesfürchtig – und nach einem sehr veralteten Weltbild. Das Lesen und Schreiben wird nur den Jungen beigebracht. Die Frauen haben für die Fortpflanzung der Familie zu sorgen – und für deren Zusammenhalt. Über intime Dinge wird schon gar nicht gesprochen. Es ist für alle das erste Mal, dass sie so offen miteinander sprechen.

Das klingt nach einer konstruierten Versuchsanordnung. Und fast der gesamte Film spielt in der Scheune, ein Kammerspiel, wie gemacht fürs Theater, aber nicht unbedingt für die Leinwand. Sarah Polley ist es aber gelungen, großes, starkes Kino daraus zu machen. Bewusst in Cinemascope gedreht, mit Breitwandfilmen, die einen starken Kontrast bilden zur Engstirnigkeit dieses Dorfes.

Ein großartiger Ensemblefilm voller starker Schauspielerinnen

Immer wieder geht der Blick hinaus auf friedliche Felder und satte Wiesen, wo die Kinder spielen. Flirrende Sommerbilder, deren Farben allerdings entsättigt und gebleicht wurden. Weil sich der Schock wie ein Schatten über das Leben hier gelegt hat.

Sarah Polley konnte für ihren Film großartige Schauspielerinnen gewinnen. Sowas birgt allerdings auch eine Gefahr. Das kann dann schnell zum eitlen Star-Kino werden. Der Regisseurin ist es aber gelungen, sie alle zu einem echten Ensemble zu verschweißen. Wobei die Stars ganz hinter ihren Figuren verschwinden und letztere nun leidenschaftlich darüber diskutieren, ob sie bleiben und vergeben, ob sie kämpfen oder ob sie gehen sollen.

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Dabei prallen die unterschiedlichsten Positionen aufeinander. Da ist die stille Ona (Rooney Mara), die von einem der Peiniger schwanger wurde, da ist die ängstliche Mariche (Jessie Buckley), die von ihrem Mann geschlagen wird, da ist die strenggläubige Scarface Janz (Frances McDormand), die Vergebung einklagt, deren Narbe im Gesicht aber wohl auch von Züchtigungen zeugt, und da ist die aufbrausende Salome (Claire Foy), die einen der Übeltäter mit einer Sense angegriffen hat und der deshalb selbst eine Strafe droht.

Unter all diesen Frauen gibt es nur einen Mann, August (Ben Wishaw), den Lehrer der Schule, der als Einziger in der Scheune lesen und schreiben kann und das Für und Wider protokollieren soll. Anfangs will der Schulmeister fast reflexartig die Diskussion leiten, schnell wird er aber eines Besseren belehrt. Und wird zunehmend sprachloser bei dem, was er da zu hören kriegt.

Ein wichtiger Film schon vom Thema her. Aber dann ist er auch noch so sehenswert

Ganz anders ergeht es den Frauen, die immer sprachlos waren, die nun aber überhaupt das erste Mal zusammen kommen, die eine Stimme bekommen, über Glaube, Gewalt und (Ohn-) Macht sprechen und sich ganz existenzielle Frage stellen, wer sie eigentich sind und welchen Stellenwert sie haben.

Unaufgeregt und doch hochemotional handelt „Die Aussprache“ von weiblicher Selbstfindung und Selbstbehauptung. Ein kleiner, intimer und doch ganz großer, intensiv gespielter und inszenierter Film, der zwar einen ganz speziellen Fall behandelt, aber all die Themen anreißt, die derzeit, durch die #MeToo-Debatte angestoßen, breit in der Gesellschaft diskutiert werden. Ein wichtiger Film. Das ist er schon vom Thema her. Aber dann ist er auch noch so eindringlich gelungen.