Am 6. November 2018 wurde vor dem Landgericht Münster gegen den 94-jährigen Johann R. aus Borken ein Strafprozess eröffnet. Der in Rumänien geborene R. hatte als Angehöriger des SS-Totenkopf-Sturmbanns von Juni 1942 bis September 1944 als Wachmann im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig Dienst getan. In Stutthof, das von 1939 bis zum Kriegsende im Mai 1945 bestand, ermordeten die Deutschen etwa 65.000 Menschen.
Die Staatsanwaltschaft warf R. vor, bei der Exekution mehrerer hundert davon beteiligt gewesen zu sein. R. führte aus, er habe zwar den furchtbaren Zustand der Gefangenen und den Verbrennungsgestank aus den Krematorien bemerkt, aber von Erschießungen, Prügelstrafen und Ermordungen nichts gewusst. Das Verfahren wurde am 29. März 2019 eingestellt, weil der inzwischen 95-jährige R. einem Gutachten zufolge nicht mehr verhandlungsfähig war.
Es war nicht der einzige Fall dieser Art. Ehemalige SS-Männer wie Oskar Gröning, John Demjanjuk oder Bruno Dey hatten sich ebenfalls vor deutschen Gerichten wiedergefunden und waren auch rechtskräftig verurteilt worden. Und doch lösten auch ihre Verfahren eine breite Debatte darüber aus, warum diese Hilfskräfte des mörderischen Regimes jahrzehntelang unbehelligt geblieben und nicht viel früher zur Verantwortung gezogen worden waren.
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Gab es hier einen generellen Unwillen, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen oder standen juristische Probleme im Weg? Hatte nicht der legendäre hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit seinem Einsatz entscheidend zu den Frankfurter Auschwitzprozessen in den 1960er-Jahren beigetragen, die mit zahlreichen Haftstrafen endeten, darunter mehrere lebenslange?
Es dauerte bis in die jüngste Zeitgeschichte, bis sich die Rechtsauffassung durchsetzen konnte, wonach der Nachweis nicht nur konkreter Taten, sondern auch der Beihilfe zum Befund justiziabler Schuld führen konnte. Diesen Weg zeichnen Isabel Gathof, Sabine Lamby und Cornelia Partmann in ihrer herausragenden Dokumentation nach. Dabei ist es ihnen nicht nur ein Anliegen, die komplizierte Rechtsmaterie verständlich zu machen (was hier vorbildlich gelingt). „Fritz Bauers Erbe“ ist auch ein Film darüber, wie die Opfer des Terrors und ihre Angehörigen mit der späten Aufarbeitung der Verbrechen leben. Neben anderen haben sie die Stutthof-Überlebende Judy Meisel und ihren Sohn Michael Cohen in Minneapolis (USA) besucht. Michael Cohen berichtet, wie deutsche Ermittler in Begleitung eines FBI-Dolmetschers seiner Mutter Fragen nach dem Lagerleben in Stutthof stellten, ihr Porträtfotografien des Wachpersonals zeigten – und sie tatsächlich einen der Männer identifizieren konnte.
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Anhand der Tatsache, dass der Sohn Michael Cohens, Judy Meisels Enkel Ben Cohen, den Prozess in Münster ohne Kenntnis der deutschen Sprache vor Ort verfolgte, lässt sich die Bedeutung des Prozesses für alle Familien ablesen, die durch die Handlanger des Nationalsozialismus beschädigt und traumatisiert wurden. Auf die oft aufgeworfene Frage, warum man Menschen so viele Jahre danach noch vor Gericht stellen müsse, hat schon Fritz Bauer sinngemäß geantwortet, dass man es all die Jahre zuvor ja nicht getan habe. Die Urteile gegen die Täter von damals, auch das zeigt dieser Film, reichen als Mahnung weit über die Gerichtssäle hinaus.