Der russische Regisseur Vasily Barkhatov inszeniert eine große Verdi-Oper und hat eine klare Weltsicht. „Ich habe noch keinen Menschen getroffen, den Macht besser gemacht hat“, sagt der 1983 in Moskau geborene Opernmann. „Aber es gibt Menschen, die Macht über andere ausüben und intelligent und integer genug sind, ihr Verhalten zu kontrollieren. Wir kennen alle die Fälle, wo Macht Menschen böse gemacht hat.“
An der Deutschen Oper bereitet Barkhatov gerade die Neuproduktion von Verdis „Simon Boccanegra“ vor. Am Sonntag ist die Premiere. Die Handlung der dreiaktigen Oper, in der es um Macht, Liebe und Tod in Genua um 1350 geht, ist nicht leicht zu erzählen. „Verdi liebt die komplizierten Geschichten“, sagt der Regisseur. „Verdi kam darauf, weil die Geschichte viel mit seiner Zeit zu tun hatte.“ Erste Bühnenfotos von Barkhatovs Inszenierung zeigen eine mondäne Gesellschaft.
„Die politische Maschine läuft eigentlich ähnlich, ob in der Renaissance, zu Verdis Zeiten oder heute“, sagt Barkhatov. „Ich lasse die Geschichte in der Gegenwart spielen, aber es ist keine Geschichte eines bestimmten Landes. Wenn sie in einem konkreten Land spielen würde, dann würde es die Geschichte kleiner machen. In der Handlung kann man natürlich Geschehnisse der letzten Jahre wiedererkennen.“ Aber ihm gehe es viel mehr um die immergleichen Muster. „Es geht mehr um das Offenlegen von Strukturen menschlichen Verhaltens, die Politik bildet eher das Gefängnis, den Rahmen außen herum.“
Im Prolog sieht man die Titelfigur noch als einen guten Menschen
Simon Boccanegra, die Titelfigur, soll zum Dogen Genuas gewählt werden. Der Korsar ist beim Volk beliebt, auch weil er die Stadt von Piraten befreit hat. „Simon Boccanegra war der erste, der als anständiger Mann von der Straße in das Amt kam. Im Prolog sieht man ihn noch als guten Menschen.“ Dann aber merke man schnell, dass sich einiges in ihm abgespielt und ihn verändert habe. „Das ist ein bisschen wie bei Tolkiens ,Der Herr der Ringe’. Wer den Ring trägt, wird von der Dunkelheit übermannt. Oder wie Nietzsche schrieb: ,Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.’“
Verdis Oper ist zweimal uraufgeführt worden. Zuerst 1857 im Teatro La Fenice in Venedig, dann 1881 im Mailänder Teatro alla Scala. In der ersten Fassung gäbe es mehr Seitengeschichten, die die Motivation der Handelnden erklären, sagt Barkhatov. In der zweiten Fassung sei viel von den komplizierten Verhältnissen aufgeklärt, die Dramaturgie ist klarer auf die Wirkung hin angelegt. In der Deutschen Oper wird die zweite Fassung mit dem Libretto von Arrigo Boito aufgeführt, aber das Vorspiel der ersten Fassung, die von Francesco Maria Piave stammt, erklingt jetzt vor dem eigentlichen Vorspiel.
„Für mich ist das Vorspiel zum Vorspiel wichtig, weil ich damit als Vorgeschichte zeigen kann, wie Jacopo Fiesco mit seiner Frau und seiner Tochter hoffnungsvoll in den Dogenpalast einzieht. Beim eigentlichen Vorspiel sieht man ihn dann fünfzehn Jahre später, als seine Frau gestorben und er bereits erschöpft und verhasst ist.“ Die jetzige Dramaturgie biete die Möglichkeit, die drei Generationen der Dogen zu zeigen, sagt Barkhatov. „Jacopo Fiesco ist der Erste, dann kommt Simon Boccanegra, am Ende zieht Gabriele Adorno in den Dogenpalast. Man ahnt, dass es bei ihm enden wird wie bei seinen Vorgängern.“
An der Deutschen Oper hat Barkhatov eine Reimann-Uraufführung inszeniert
Sein Regiestudium hatte Barkhatov 2005 am Russischen Institut für Theaterkunst abgeschlossen, dann inszenierte er am St. Petersburger Mariinsky Theatre. Für seine Sicht auf „Die Brüder Karamazov“ wurde ihm 2009 die Goldene Maske verliehen. Das ist ein alljährlich in Moskau verliehener Theaterpreis. Am Bolschoi-Theater hat er im Jahr darauf Strauß’ „Fledermaus“ gemacht. Kurzzeitig war er Künstlerischer Leiter des Mikhailovsky Theater in St. Petersburg, wo er Wagners „Fliegenden Holländer“ inszenierte. Dann häufen sich Arbeiten in West-Europa. An der Deutschen Oper hat er 2017 die Uraufführung von Aribert Reimanns „L’invisible“ auf die Bühne gebracht.
Barkhatov gehört zu den wenigen Regisseuren, die sich im Gespräch wirklich viel Zeit nehmen, über Fragen nachzudenken, um sie möglichst präzise zu beantworten. Etwa auch über Frage, ob er seine Berliner Produktion so in Russland zeigen könnte? „Ich glaube, ich würde ,Simon Boccanegra’ genau so inszenieren“, sagt Barkhatov. Dann kommt eine Erklärung, denn als letztes hatte er Tschaikowskis Oper „Die Zauberin“ in Frankfurt auf die Bühne gebracht. „Diese Inszenierung wäre nicht möglich in Russland“, sagt er. „Dort hätte ich nach der Premiere Anzeigen wegen religiöser Beleidigung und politischer Verunglimpfung erhalten, vermutlich einen Prozess am Hals. Aber die Zensur in Russland versteht meist keine Symbole, keine Subtilitäten, es muss sehr direkt sein, damit sie darauf reagiert.“
Simon Boccanegra hat über sein Amt die eigene Familie verloren
Bei einer Oper, die vor langer Zeit in Italien spielt, würden die Zensoren vermutlich abwinken, glaubt er. „Aber aktuell bin ich mir gar nicht so sicher.“ Der Regisseur ist längst vor allem im deutschsprachigen Raum unterwegs. Nach Bregenz, Düsseldorf, Frankfurt, Berlin folgt das Theater an der Wien. Offen spricht der Vater zweier Töchter über seine Scheidung. „Ich muss mir noch überlegen, wo ich mich niederlasse. Das weiß ich im Moment noch nicht.“
Auf das sehr private Thema Midlife-crisis kommen wir eigentlich nur, weil er im Gespräch sagt, dass man nicht „zur selben Zeit ein guter Politiker und ein guter Familienvater sein kann. Um ein guter Politiker zu sein, müsste er seine Familie auf den Altar legen und opfern. Simon hat über sein Amt die Familie verloren. Er ist davon besessen, seine Tochter zu suchen.“ Aber das kann Politiker wie jeden anderen Workaholic betreffen.
Deutsche Oper, Bismarckstr. 35, Charlottenburg. Tel. 34384343 Termine: 29.1.; 1., 4., 9., 17., 19. und 25.2.