Theater/Film

„Das Hamlet-Syndrom“: Sein oder Nichtsein in Lemberg

| Lesedauer: 4 Minuten
Thomas Abeltshauser
Junge Menschen setzen Shakespeares Drama in Beziehung zu ihren eigenen Erfahrungen.

Junge Menschen setzen Shakespeares Drama in Beziehung zu ihren eigenen Erfahrungen.

Foto: Real Fiction

Ohnmacht, Trauer, Wut: „Das Hamlet-Syndrom“ ist ein bewegender Dokumentarfilm über ein Theaterprojekt junger Menschen in der Ukraine.

Feuer und Rauchschwaden. Hundertschaften mit Helmen, die auf Demonstranten einschlagen. Verstörende Aufnahmen mitten aus Straßenschlachten in Kiew, von der Revolution 2013/14, nach deren Ende ein Krieg begann, der bis heute andauert. Dazu fast stoisch vorgetragen ein vertrauter Monolog, auf ukrainisch.

„Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: Ob’s edler im Gemüt, die Pfeile und Schleudern des Schicksals zu ertragen oder sich gegen das Meer der Plagen zu bewaffnen und durch Widerstand zu beenden?“ Diese Sätze kennt selbst, wer noch nie „Hamlet“ gesehen hat, Shakespeares Tragödie über den Prinzen von Dänemark, der über den Mord an seinem Vater verzweifelt.

Traumatische Gewalterfahrungen in einem Theaterprojekt verarbeitet

Nur wenige Monate bevor Russland im Februar 2022 die Ukraine überfallen hat, begann in Lemberg ein Theaterprojekt mit dem Titel „H-Effect“. Darin verarbeiteten fünf junge Menschen aus der Ukraine ihre traumatischen Gewalterfahrungen während der Maidan-Revolution und des kriegerischen Konflikts im Osten des Landes.

Die Motive aus dem Shake­speare-Stück sowie Heiner Müllers reflexive Weiterentwicklung „Die Hamletmaschine“ dienen als Vorlage und Gerüst, zu dem sie ihr eigenes Leben in Beziehung setzen. Unter Anleitung der jungen Regisseurin Rosa Sarkissjan proben sie 40 Tage lang, die Bühne wird zur Plattform, um sich mit der eigenen Trauer, Ohnmacht und Wut zu konfrontieren.

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Der Trailer zum Film: „Das Hamlet-Syndrom“

Eine für die Teilnehmenden wie das Publikum gleichermaßen bewegende und aufrüttelnde Auseinandersetzung, als Gruppentherapie psychischer Wunden und als Theaterprojekt, das die sehr unterschiedlichen Erfahrungen ins öffentliche Bewusstsein bringen soll.

Den aufreibenden Probenprozess beobachten die beiden Filmemacher Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski und zeichnen in ihrem Dokumentarfilm „Das Hamlet-Syndrom“ so das Porträt einer jungen Generation aus der Ukraine, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geboren wurden, von den politischen Umbrüchen geprägt und vom Krieg gezeichnet sind.

Verdrängte, unterdrückte Emotionen kommen hoch

Die Auseinandersetzung ist nicht rein intellektuell, sondern vor allem spielerisch. Dem in einem geschützten Rahmen Raum zu geben, erweist sich als fruchtbar, weil sie hier ihre Erfahrungen in der Revolution und im Krieg aufarbeiten und dabei verdrängte, unterdrückte Emotionen zulassen können, ohne Sanktionen fürchten zu müssen.

Den Fokus des Films erweitern Gespräche mit Familienmitgliedern und anderen Opfern politischer Gewalt im Land, die „Das Hamlet-Syndrom“ zu einem vielschichtigen Bild der Verfasstheit der ukrainischen Gesellschaft abrunden. Niewiera und Rosołowski, beide in Polen aufgewachsen, leben und arbeiten seit vielen Jahren in Berlin.

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Sie lernten sich kennen beim Dreh des Dokumentarkurzfilms „Mauerhase“ über den Berliner Grenzwall, der 2010 für den Oscar nominiert war. „Das Hamlet-Syndrom“ ist ihr dritter gemeinsamer Langfilm. In Locarno, wo er im August Premiere feierte, wurde er mit dem Großen Preis der auf Dokumentarfilme spezialisierten Sektion „Semaine de le Critique“ ausgezeichnet.

Die Gruppe führt ihr erarbeitetes Stück „H-Effect“ schließlich in Lemberg auf, wenn auch wegen des Lockdowns zunächst vor leerem Saal. Doch online sahen mehr als 10 000 Ukrainer zu. Vorstellungen mit Publikum folgten, als es wieder möglich war, in der Ukraine und in Polen. Kathartische, ergreifende Momente, auf der Bühne und davor.

Nach dem Ende der Dreharbeiten kam der Krieg. Katja, Roman und Slawik kämpfen seitdem an der Front für ihr Land, Rodion näht Uniformen und Oksana ist nach Polen emigriert, von wo aus sie humanitäre Hilfe organisiert. Auch die beiden Filmemacher engagieren sich, bringen Lebensmittel, Medikamente und andere dringend benötigte Güter in die Ukraine. Ihr Film ist durch den Krieg nur noch relevanter geworden.