Christoph Stölzl hatte eine unnachahmlich charmante Art, Geschichten zu erzählen – fast war es gleichgültig, wovon sie handelten. Zum Interview kam der schon weit über 70-Jährige gern mit dem Fahrrad in der Redaktion vorbei, und gleich mit der Begrüßung entspann sich eine so interessante wie entspannte Plauderei über dies und jenes: den öffentlichen Nahverkehr in Berlin, den für den Stadtverkehr bequemsten Sattel, einen empfehlenswerten Reparaturladen und die besten Möglichkeiten, sich gegen Diebstahl zu schützen.
Es war schön, ihm dabei zuzuhören, nicht nur wegen seines Talents zur druckreifen, pointierten Formulierung, sondern auch seiner angenehmen, leicht heiser klingenden Stimme halber.
Das Exilmuseum war seine Herzensangelegenheit
Vorzugsweise sprach Stölzl, dabei gedankenverloren mit seiner Brille spielend, zuletzt von seinem Herzensanliegen, dem geplanten Exilmuseum am Anhalter Bahnhof. Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller engagiert sich als Schirmherrin dafür, Stölzl hatte die Rolle des Gründungsdirektors übernommen. Er entpuppte sich dabei als lebendige Enzyklopädie unerzählter Geschichten über die Folgen des nationalsozialistischen Kulturbruchs für all die Menschen, die ins Ausland zu fliehen gezwungen waren: „Die Geschichte des Exils“, sagte er, „ist ein Atlantis, eine andere deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Nationalsozialisten haben Deutschland mit der Welt entzweit auf eine bis heute nicht wieder gutzumachende Weise. Das Exil hat Deutschland mit der ganzen Welt auf eine Art verbunden, die uns Deutschen bis heute viel zu wenig bekannt ist. Es ist eine andere Geschichte unseres Landes, unserer Kultur.“
Mit farbenfrohen, kenntnisreich illustrierten Beispielen wusste er diesen Befund zu unterfüttern. Mit seiner Gabe der Rede, seinem verblüffend reichen Gedächtnis und seiner anrührenden Höflichkeit absolvierte der 1944 in Westheim bei Augsburg geborene und in München aufgewachsene Stölzl eine berufliche Laufbahn, nach der sich viele Historiker sehnen dürften. Nach dem Studium der Geschichte, der Literaturwissenschaft und der Soziologie promovierte er und wurde nach Stationen am Bayerischen Nationalmuseum und der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität 1980 Direktor des Münchner Stadtmuseums – eine Rolle, die er allerdings anders, nämlich kreativer und provokanter ausfüllte als seine Vorgänger.
Christoph Stölzl: Seine Arbeit sorgte für Aufsehen
Seine Ausstellung zur Geschichte des Oktoberfests widmete er 1985 einer „radikalen Archäologie der bayerischen Variante der Welterfahrung“ – oder, wie er es im Untertitel bündiger fasste: „175 Jahre bayerischer Nationalrausch“. Vorhersehbar, dass so viel öffentlich ausgesprochene Wahrheit zu „lokalpatriotischen Kleinkriegen“ führte, von denen seinerzeit sogar der „Spiegel“ berichtete. Stölzl, immer auf der Suche nach neuen, spannenden Perspektiven, dürfte seine Freude an ihnen gehabt haben.
Seine Arbeit sorgte für Aufsehen und blieb auch in der Politik nicht unbemerkt. Nachdem Stölzl das Land Berlin beim Projekt „Forum für Geschichte und Gegenwart“ beraten hatte, berief ihn Kanzler Helmut Kohl 1987 zum Gründungsdirektor des neu gegründeten Deutschen Historischen Museums, das er aus dem Nichts zu einem der wichtigsten Ausstellungshäuser Europas machte.
Stölzl blieb es bis 1999, bevor er die späten Wanderjahre seiner Arbeitsbiografie einläutete: Er war für zwei Jahre Feuilleton-Chef der „Welt“, dann freiberuflicher Publizist, er war hier Honorarprofessor, dort Fernsehmoderator und Geschäftsführer des Auktionshauses Villa Grisebach, bevor er 2010 zum Rektor der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar gewählt wurde.
Die Politik ist da noch gar nicht erwähnt: Stölzl, zunächst Mitglied der FDP und zeitweilig deren stellvertretender Landesvorsitzender, trat nach einer Phase der Parteilosigkeit 2001 in die CDU ein. Er war zu Beginn der Nullerjahre Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur im schwarz-roten Senat Eberhard Diepgens, 2002-2003 Landesvorsitzender der Berliner CDU und gehörte bis 2006 dem Abgeordnetenhaus an, zuletzt als dessen Vizepräsident. Von der Lust an der Debatte ließ er sich dabei nur selten ins Polemische locken, etwa als er den Sieg von SPD und Grünen bei den Bundestagswahlen 2002 mit dem „Unglück der Erdrutschwahlen von 1931/32“ verglich. Stölzl, auch das gehört dazu, entschuldigte sich wenig später dafür.
„Er war vor allem unser Freund“
Sein bei aller ruhigen Verbindlichkeit rastloser und origineller Geist hinterlässt im öffentlichen Diskurs eine schmerzliche Lücke. Der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Exilmuseum, André Schmitz, spricht von einem „unvorstellbaren Verlust“: „Mit Christoph Stölzl haben wir nicht nur unseren weithin geschätzten Gründungsdirektor verloren.
Er war viel mehr als das: engagierter Mitstreiter, kluger Berater, erfahrener Ausstellungsmacher, aber vor allem unser Freund. Mit seinem enzyklopädischen Wissen, seiner feinen Ironie, seinem Charme und seiner nicht enden wollenden Begeisterung für das Projekt Exilmuseum hat er alle seine Gesprächspartner:innen angesteckt und überzeugt.“