Edgar Allen Poe ist für die Literatur, was Goya der Malerei ist: ein Wegbereiter der Moderne, aber vor allem ein Meister in der Darstellung schauerlicher Schatten und seelischer Abgründe, ein Grenzgänger zwischen Genie und Wahn, der mit eigenen inneren Dämonen rang – und sie in bleibende, verstörende Szenarien übertrug, die uns noch heute schaudern lassen.
Ein Film über Poe mit Christian Bale in der Hauptrolle – das scheint sofort stimmig. Ist doch auch der Hollywoodstar ein Meister im Darstellen zerrissener, grüblerisch zweifelnder und verzweifelnder Figuren, ein Schauspieler, der für seine Rollen stets an Grenzen und auch darüber hinaus geht.
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Ironie: Poe wird selbst zu einer Figur einer typischen Poe-Geschichte
Mit seinem eingefallenen Gesicht, den hervorstehenden Wangenknochen und den tief zurückliegenden Augen ist er eine Idealbesetzung für ein Biopic über den Schauerliteraten, um den sich selbst viele Mythen ranken, wegen seiner Manie am Okkulten, seiner oft kolportieren Trunksucht – und Nekrophilie.
Aber nein: „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“, der nach einem nur kurzen Kinoeinsatz zu Weihnachten jetzt bei Netflix gestartet ist, ist gar kein Biopic. Das ist schon die erste bewusste Irreführung. Scott Coopers Film ist die Adaption des gleichnamigen Romans von US-Autor Louis Bayard. Und der ist mehr eine Hommage auf Poe: eine Detektivgeschichte (als deren Vater Poe ja gilt, auch wenn er eher aus finanziellen Gründen dazu gezwungen war). Mit dem ironischen Dreh, dass Poe selbst darin eine Rolle spielt: als junger Mann, noch bevor er seine berühmten Kurzgeschichten schreibt.
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Bale spielt den renommierten New Yorker Ermittler Augustus Landor, der sich aufs Land und in den Ruhestand zurückgezogen hat und nach dem Tod seiner Frau und dem Verschwinden seiner Tochter etwas eigen geworden ist. Im Winter des Jahres 1830 wendet sich die nahe Militärakademie West Point mit einer delikaten Sache an ihn. Weil ein Kadett sich erhängt hat. Das allein schon würde man gern vertuschen. Aber schlimmer noch: Seine Leiche wurde geschändet. Und sein Herz herausgeschnitten.
Poe wird hier konfrontiert mit Motiven und Stimmungen aus seinem Werk
Landor soll unter Ausschluss der Öffentlichkeit ermitteln. Man hat ihn nicht nur wegen seines Rufs erwählt, sondern auch, weil er keinen gesellschaftlichen Umgang pflegt und die peinliche Affäre wohl nicht weitererzählen wird. Landor lässt sich auf den Deal ein, auch wenn er dem Militär kritisch gegenübersteht.
Schnell erkennt er aber, dass der Fall kein kein Suizid war. Dass die Tat ein Ritualakt war. Und der Täter in der Anstalt zu suchen ist. Es wird auch nicht bei dieser einen Leiche, dieser einen Schändung, bleiben. Doch die Kadetten hüllen sich in Schweigen. Weshalb Landor einen V-Mann braucht. Und ihn in einem Außenseiter findet, der eine blühende Fantasie, aber ein Faible fürs Morbide hat: der junge Kadett E.A. Poe.
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Den spielt Harry Melling, schon als Kind bekannt geworden als Dudley Dursley in den „Harry Potter“-Filmen und seither wegen seines ausdrucksstarken Gesichts gern für markante skurrile Rollen etwa in „Damengambit“ oder Denzel Washingtons „Macbeth“ verpflichtet wird. Auch seinen Poe legt er als verschrobenen Eigenbrötler an.
Eine Art „Der Name der Rose“ - in einer Kadettenanstalt statt eines Klosters
„Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ wirkt ein bisschen wie „Der Name der Rose“, nur in einer Kadettenanstalt statt im Kloster. Aber auch hier ist Landor der überlegene Denker, der alle Spuren und Fährten zu deuten weiß. Und Poe der Adlatus, der nur staunend zusehen – und lernen kann. Dabei gerät der Junge in Lebensgefahr und wird fast selbst zum Opfer jener Chimären, für die er in die Literaturgeschichte eingehen wird. Doch am Ende wird aus der lange nur passiven Figur doch noch ein aktiver Held.
Die hübsche, wenn auch nahe liegende Idee schon im Buch, aber erst recht im Film, ist die, dass hier ein paar biografische Eckdaten Poes (der in jenem Jahr tatsächlich Kadett in West Point war) mit zentralen Motiven und Stimmungen seiner späteren Schauergeschichten vermengt wird. Beim Titel muss man sofort an Poes Kurzgeschichte „Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym“ denken, bei dem herausgeschnittenen Organ natürlich an „Das verräterische Herz“. Auch flattert ein Rabe bedeutungsschwer durchs Bild.
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Vor allem aber stellt Regisseur Cooper mit Lust all die „Gothic“-Elemente aus Poes Oeuvre nach, die längst zum Besteck des Horrorkinos gehören: winterliche Wälder, düstere Gemäuern, flackernde Kerzen und knarzende Dielen. Und das wird in große Kinobilder gegossen – die eigentlich zu groß sind, um sie nur bei Netflix zu streamen.
Ein Fest für Schauspieler - die denn auch mit Lust dabei sind
Cooper hat schon zwei Mal, in „Auge um Auge“ und „Feinde – Hostiles“, mit Christian Bale zusammengearbeitet. Bale hat diesen Film auch koproduziert und brilliert hier einmal mehr als Zerrissener. „Der denkwürdige Fall“ ist aber auch ein großes Schauspieleduell zwischen ihm und Melling.
Und Cooper, der selbst einmal als Schauspieler begann und ein ausgesprochener Schauspieler-Regisseur ist, hat auch sonst große Stars für kleine Rollen gewonnen: von Timothy Spall über Alt-Star Robert Duvall und Charlotte Gainsbourg bis zu Gillian Anderson, die hier exzentrische Auftritte hat, die allein das Schauen lohnen.
Der Film, der sehr langsam erzählt wird, nimmt erst am Ende richtig Fahrt auf. Und natürlich ist dann alles noch mal ganz anders, als gedacht. Alles andere hätte sich bei einem Poe auch verboten. Eine hübsche und adäquat schaurige Hommage also. Wenn die Raben Schauer krächzen...