Der Berliner Künstleragent Karsten Witt spricht über Veränderungen im weltweiten Musikbetrieb.
In Kreuzberg hat Karsten Witt seine Firma für Projekt- und Künstlermanagement angesiedelt, aus seinem Büro am Leuschnerdamm 13 blickt man auf das Engelbecken. Karsten Witt hat eine beachtliche Laufbahn als Geiger, Orchestergründer, Labelchef und Musikmanager hinter sich. Unser Gespräch beginnt in der Küche bei einem Espresso. Es geht um die Situation des internationalen Klassikbetriebs und seine ungewöhnliche Konzertreihe „hiddenCLSX“.
Herr Witt, steckt der Klassikbetrieb gerade in einer Krise?
Karsten Witt Das Wort Krise begleitet mich, so lange ich in diesem Betrieb bin, und das sind fast 50 Jahre. Am stärksten war ich damit als Präsident der Deutschen Grammophon konfrontiert. Ende der 1990er-Jahre war die Krise der Klassik in aller Munde. Dabei hat die wirtschaftlich angeschlagene CD-Industrie einfach nur weniger investiert. Es gab einen Technologiewandel, ein viel größeres Angebot und einen Preisverfall, aber es gab keine Krise auf der Nachfrageseite und erst recht nicht der Klassik.
Aber im Moment stöhnen viele Konzertveranstalter, dass der Kartenverkauf nach der Pandemie stockt?
Auch heute geht es dabei um ein schwerwiegendes wirtschaftliches Problem. Zunächst einmal hat sich durch Corona unser aller Verhalten verändert. Ich vermute, dass es jetzt eine Menge Leute gibt, die Angst haben, sich in große Menschenmengen zu begeben. Das Leben ist privater geworden. Ich esse selbst auch im Büro und gehe nicht mehr jeden Mittag raus. Im Moment spricht wenig dafür, dass sich das soziale Verhalten schnell wieder verändern wird. Dazu kommen Rezession, Inflation und der Ukraine-Krieg, der Urängste schürt.
Würden Sie Krisen in der Kultur immer wirtschaftlich begründen und nicht auf der Bildungsseite des Publikums suchen?
Wenn es eine Krise der Klassik gäbe, dann würde sie beim Musikmachen beginnen. Aber es gibt eine große Nachfrage nach Musikschulplätzen und dem Unterricht auf allen Instrumenten. Alle meine 20 Mitarbeiter:innen singen in Amateurchören oder spielen in Amateurorchestern. Das Engagement für Musik ist ungebrochen. Darüber hinaus sehen wir: Das Abopublikum kommt langsam wieder zurück. Die Fans kommen zurück zu ihren Stars. Allerdings müssen wir lernen, mit den vielen Krisen, die sich auch im Veranstaltungswesen niederschlagen, zu leben. Sie werden leider nicht einfach verschwinden.
Wie laufen die Geschäfte in Ihrer Konzertagentur?
Wir vertreten rund 80 Künstler: Dirigenten, Solisten, Ensembles und Komponisten. Wir arbeiten ausschließlich als General Management, das heißt, wir vertreten unsere Künstler weltweit direkt. Ich schätze, dass wir einen Rückgang von rund 20 Prozent bei unseren Einnahmen haben. Es gibt nicht nur Rückgänge bei den Karteneinnahmen, sondern auch Bedrohungen der Subventionen, woraus das vorsichtige Verhalten vieler Veranstalter erwächst. Zum Glück gibt es aber auch weiterhin sehr gut beschäftigte Künstler.
In der Pandemie war auch der Tourneebetrieb zum Erliegen gekommen.
Der geht gerade erst wieder los. Aber China bleibt immer noch geschlossen, Japan ist schwierig. In den USA gibt es ständig Visa-Probleme. Großbritannien ist kompliziert geworden. Und natürlich ist die Lage für unsere russischen Künstler besonders schwer.
Kehrt der Klassikbetrieb in die Nationalstaatlichkeit zurück?
Ich hoffe nicht. Wir sehen, dass die Menschen wieder durch die Welt reisen und ihren Urlaub planen. Aber das Klimaproblem spielt in unser aller Köpfen, auch der unserer Künstler, eine große Rolle. Ich glaube, das Touring wird nie wieder den Umfang erreichen wie vor 20 Jahren. Den ersten Einbruch hatten wir 2008 nach der Finanzkrise. Es folgte Corona, jetzt der Krieg. Die Flugkosten und die Hotelkosten sind inzwischen deutlich gestiegen. Es gibt weltweit immer weniger Orchester, die sich das leisten können. Lange Zeit hatten Orchester von ihren Trägern den Auftrag, sich international zu präsentieren. Sie haben teilweise dafür bezahlt, in Berlin oder Wien zu spielen. Das ist vorbei. Alle Orchester müssen ihre Tourneekosten decken.
In der Pandemie war zu lernen, dass es fürs soziale Überleben besser ist, als Musiker einem subventionierten Kulturbetrieb anzugehören. Freischaffende Musiker durchlitten schwerere Zeiten. Welchem Modell gehört die Zukunft?
Wir unterliegen einer immer weiter fortschreitenden Kommerzialisierung des ganzen Entertainment-Sektors, überhaupt der ganzen Kommunikation, die von den großen Internet- und Medien-Unternehmen gesteuert oder zumindest kontrolliert wird. Daran können wir nichts ändern. Damit einher geht eine Verbürgerlichung unseres Kunst- und Kulturbereichs. Wer in der Pandemie eine Festanstellung hatte, war glücklich. Selbst wir waren subventioniert. Wir hatten Kurzarbeit und bekamen anschließend eine großzügige Entschädigung für entgangene Einnahmen. Die ganze Veranstaltungsbranche ist gerettet worden. Aber mit Kunst hat dieser Betrieb nur am Rande zu tun. Kunst soll immer etwas Neues schaffen, das noch nicht abgesichert und in Strukturen verewigt ist. Kunst ist nicht dazu da, nur eine bestehende Nachfrage zu bedienen. Wahre Künstler werden immer einen freieren Status anstreben.
Das klingt nach einer großen Träumerei?
Nein. Als wir damals die Junge Deutsche Philharmonie gründeten, wollten wir die Orchester revolutionieren. Das ist uns offenkundig nicht gelungen. Aber wir haben eine ganze Reihe von freien Ensembles in Deutschland geschaffen. Dazu gehören das Ensemble Modern, Deutsche Kammerphilharmonie, Freiburger Barock-Orchester oder das Ensemble Resonanz, um nur die zu nennen, die aus der Jungen Deutschen Philharmonie hervorgegangen sind. In diesem Modell sind die Musiker selbst die Eigentümer der Ensembles. Sie tragen die volle Verantwortung, auch wirtschaftlich. Es ist ein gelungenes Modell, in dem der Musiker seine Freiheit hat und sich dennoch in Gemeinschaft organisiert.
Wenn Sie auf die Berliner Musikinstitutionen wie die Opernhäuser oder Klassiksäle schauen, was beschäftigt Sie gegenwärtig am meisten?
Hier in Berlin lebt man wie im Paradies. In London hatte ich als Chief Executive des Southbank Centre die Hauptstadt des Musikkommerzes erlebt. In Berlin gibt es ein Vielfaches der Subventionen, die in Großbritanniens fürs ganze Land zur Verfügung stehen. Natürlich stellt man sich die bange Frage, wie lange die Politik das in Deutschland aufrecht erhalten wird. Aber alle großen Kulturinstitutionen machen große Anstrengungen, um die Gesamtbevölkerung und gerade auch junge Leute zu erreichen. Und Berlin zeichnet sich nicht nur durch drei große Opernhäuser und große Orchester aus, sondern auch durch die reiche freie Szene.
Mit „hiddenCLSX“ haben Sie in Berlin eine neue ungewöhnliche Konzertreihe gewagt. Wie ist das Modell, Musik des 20. Jahrhunderts mit wissenschaftlichen Vorträgen zu verknüpfen, angelaufen?
Es handelt sich um ein langfristig angelegtes Projekt. CLSX.de ist eine gemeinnützige Gesellschaft. Ausgangspunkt der Reihe sind die fantastischen Meisterwerke des 20. Jahrhunderts, die längst historisch sind, aber zu wenig gespielt werden. Ich nenne mal Luciano Berio mit einem bedeutenden Oeuvre, von dem immer nur die „Sinfonia“ aufgeführt wird. Gegenwärtig können wir generell eine große Verengung des Repertoires feststellen.
Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, Musik mit Vorträgen zu kombinieren?
Die Idee kam mir in einem Sitzungsraum der Mailander Scala, wo ich ein Plakat von 1830 entdeckte. Es ging um Rossinis „Barbier von Sevilla“. Nach dem ersten Akt war ein Physikprofessor angekündigt, der drei Experimente vorführt, die noch nie in unserer Stadt zu erleben waren. Dass etwas Wissenschaftliches in einer schöngeistigen Umgebung präsentiert wurde, war für mich neu. Heutzutage kann man in keinem Theater mehr physikalische Experimente vorführen. Aber den Diskurs über relevante Fragen können wir in unsere Veranstaltungen hineintragen.
Philharmonie am 15.1. um 16 Uhr. Tel. 47997424. „hiddenCLSX“: Dennis Russell Davies dirigiert amerikanische Werke des 20. Jahrhunderts