Geschichten über Familien, Politik und Geschichte: Literatur für das Last-Minute-Geschenk – und zur eigenen Lektüre.
2022 war literarisch gesehen ein überaus ergiebiges Jahr. Unter den Neuerscheinungen fanden sich spannende, überraschend gut funktionierende Formexperimente ebenso wie traditionell erzählte und anrührend zu lesende Texte – da ging es um die Vergangenheit des Kalten Krieges ebenso wie um die Gegenwart unter Migranten, Geschwisterbeziehungen wurden aufgefächert und Familiengeschichten ausgelotet. Wir stellen zehn lesenswerte Bücher vor, die in diesem Jahr erschienen sind.

Berit Glanz: Automaton. Berlin Verlag, 288 Seiten, 22 Euro. „Automa“ nennt sich eine Plattform, auf der Hauptakteurin Tiff regelmäßig schlecht bezahlte Jobs annimmt – es geht zum Beispiel darum, die Aufnahmen von Sicherheitskameras auszuwerten. Dort fällt ihr eines Tages das verschwinden eines offenbar obdachlosen Mannes auf, nur der verängstigte Hund bleibt zurück. Mit Hilfe einer ihr bis dahin unbekannten, 5000 Kilometer entfernt lebenden Frau namens Stella macht sich Tiff auf die Suche. „Automaton“ zeichnet die Konturen unserer heutigen Arbeitswelt so glaubwürdig wie witzig nach – und ist von einem raffinierten Anspielungsnetzwerk durchzogen, an dem man so viel detektivische Freude entwickeln kann wie das Personal des Romans.

Behzad Karim Khani: Hund Wolf Schakal. Hanser Berlin, 288 Seiten, 24 Euro. Behzad Karim Khani, 1977 in Teheran geboren, ist den Berliner Nachtgestalten eigentlich als Mitgründer der Bar 25 in Friedrichshain und der Lugosi Bar in Kreuzberg bekannt. Mit „Hund Wolf Schakal“ hat er ein furioses Debüt hingelegt. Ein Junge namens Saam wird in den Nachwehen der iranischen Revolution seiner Kindheit beraubt: Sein Vater wird vor seinen Augen von Milizen abgeführt, seine Mutter wird aus dem Frauengefängnis nicht wiederkehren. Jahrzehnte später, in den 1990er-Jahren, finden wir ihn in Neukölln wieder, wo er eine Apotheke überfällt und seinerseits im Gefängnis landet. Ein geradlinig erzählter, harter Asphaltroman, in dem ein verzweifeltes Herz schlägt.

Ann Tyler: Eine gemeinsame Sache. Kein & Aber, 352 Seiten, 23 Euro. Was stellt es mit einem Mann an, wenn er sich in seiner Kindheit von seinem Vater nicht geliebt fühlte? Oder allgemeiner gefragt: Welche Verletzungen können sich Menschen zufügen, die einander nahe stehen, und wie können diese Verletzungen heilen? Mit großer Zärtlichkeit gegenüber ihren Figuren und mit wachem, herzenswarmem Witz verfolgt die US-Schriftstellerin und Pulitzer-Preisträgerin Ann Tyler die Geschichte der Familie Garrett über mehrere Jahrzehnte hinweg. Nebenbei zeichnet sie eine differenzierte Sittengeschichte der amerikanischen Gesellschaft. Tyler liefert seit Jahren zuverlässig Familienepen, die ergreifend sind, ohne kitschig oder melodramatisch zu sein. Man wünscht sich, dass diese große Schriftstellerin nie damit aufhört.

Dorota Maslowska: Bowie in Warschau. Rowohlt, 128 Seiten, 22 Euro. Im Mai 1973 steigt David Bowie auf seiner Reise von Moskau nach Berlin für eine Stunde in Warschau aus dem Zug. Dies tut er in dieser zauberhaften Mischform aus Drama und Roman aber nur, um die Bühne für ein sehr skurriles Personal in der kommunistisch einbetonierten Hauptstadt Polens zu öffnen: Für einen Polizisten, der auf der Suche nach einem gefürchteten Würger ist und für einen Buchhändler mit großer Eifersucht auf einen erfolgreichen Schriftsteller. Dazwischen: die junge Regina, die gerade von der Universität geflogen ist. Umwerfend, wie hier die Zeit vor Solidarność zum Leben erweckt wird: lebendig, schnell geschnitten und mit einem guten Auge für Details.

Yasmina Reza: Serge. Hanser, 208 Seiten, 22 Euro. Eine jüdische Familie: Da ist der titelgebende Serge, ein Schürzenjäger und Lebemann, sein im Vergleich dazu etwas blasser Bruder Jean und die verwöhnte Jüngste Nana. Nachdem die Mutter gestorben ist, stellen die Geschwister fest, dass niemand sie jemals nach ihren Erfahrungen mit dem Holocaust und nach dem Schicksal ihrer ungarischen Vorfahren befragt hat. Da schlägt Serges Tochter Joséphine eine Reise nach Auschwitz vor. Dabei finden die Geschwister wieder zu einer Nähe, die jahrzehntelang nicht bestanden hat – im Guten wie im Schlechten. Yasmina Reza, vielfach gefeierte Dramatikerin, zeigt in diesem Roman ihr Talent für ausgefeilte Dialoge und mitreißende Situationskomik – auch am Abgrund des Völkermordes.

Eckhart Nickel: Spitzweg. Piper, 256 Seiten, 22 Euro. „Ich habe mir nie viel aus Kunst gemacht“, lautet der erste Satz dieses Romans, der dann auf sehr vertrackte und kluge Weise von Kunst handeln wird. Es geht um einen guten Freund von geradezu astronomischer Belesenheit und um eine Mitschülerin, die im Unterricht vom Lehrer gedemütigt wird – woraufhin Rache fällig wird. Wie kann die Kunst das Leben imitieren, wie wird das Leben zur Kunst? Im Rahmen einer rasanten Dreiecksgeschichte verhandelt Eckhart Nickel die großen Fragen der Ästhetik und lädt zur Neuentdeckung eines lange Zeit verschmähten Künstlers ein – des titelgebenden, in der Tat erstaunlichen Carl Spitzweg.

Tomer Gardi: Eine runde Sache. Droschl, 256 Seiten, 22 Euro. Ein Roman aus zwei Teilen, die sich lesen, als wären sie von zwei verschiedenen Autoren geschrieben. Der erste schildert die Odyssee eines Autors namens Tomer Gardi durch das gegenwärtige Deutschland, der zweite die Lebensgeschichte des Malers Raden Saleh (1811-1880), Vater der indonesischenMalerei – einmal in der Kunstsprache des „Broken German“, mit der Gardi das Deutsch von Einwanderern einfängt, und einmal aus dem Hebräischen übersetzt. Beide Geschichten fügen sich zu einer Reflexion über das Leben in der Fremde und fragen nach dem Leben mit und für die Kunst. Rasend unterhaltsam!

Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. Fischer, 192 Seiten, 22 Euro. Ein Tag in einer sowjetischen Kommunalka am 11. März 1985, dem Tag, als die Ära Gorbatschow beginnt: Eine Zeitenwende liegt in der Luft, doch alle gehen noch ihrem Alltag nach, Großmutter, Tochter und Enkelin – umgeben vom skurrilen, liebenswürdig gezeichneten Personal der Wohngemeinschaft. Sie alle sind Gestrandete und wissen es. Ein musikalischer, lustiger Roman über das Leben im Spätkommunismus.

Thomas Melle: Das leichte Leben. KiWi, 352 Seiten, 24 Euro. Jan und Kathrin, einst ein schönes Paar, haben sich auseinandergelebt. Nun probiert Kathrin sexuelle Nebengleise aus, während Jan mit Nacktfotos aus seiner Internatszeit erpresst wird. Ein schneller, böser, witziger Roman über das Leben in Zeiten von Social Media.

Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen. Hanser, 448 Seiten, 27 Euro. Eine atemberaubend rasante, ironisch verschachtelte Suche nach einem verschollenen Autor – dem „schwarzen Rimbaud“ T.C. Elimane, der nach rassistischen Anfeindungen und einem Skandal verschwand. Die Ermittlungen führen auf drei Kontinente. Ein Kriminalroman zum Erbe des Kolonialismus, der virtuos mit literarischen Traditionen jongliert.