Rotes Stroboskoplicht in der Dunkelheit. Für Sekundenbruchteile ist schemenhaft ein grauer Fellkörper zu erkennen, auf dem Boden liegend, die Hufe in die Höhe. Dann das Gesicht einer jungen Frau, die sich darüber beugt, „EO!“ ruft. Ein Unfall? Versucht sie das Tier zu wiederzubeleben? Da rappelt der Esel sich hoch, Applaus ertönt in der Zirkusmanege, die Frau verbeugt sich, während die Kamera weiter schwindelerregend um das Tier kreist.
Ein Esel und wie er die Welt wahrnimmt
Gleich in diesen ersten Momenten von „EO“ (englisch für I-Ah) macht der polnische Altmeister Jerzy Skolimowski deutlich, dass von ihm viel zu erwarten ist, nur kein konventionelles Kino. Sein erster Spielfilm in sieben Jahren, in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichnet, stellt keine Menschen in den Mittelpunkt, sondern einen Esel, durch dessen Perspektive der Film auf die Welt blickt. Damit löst sich der 84-Jährige, noch mehr als bisher, von psychologisierenden Narrativen, auch die Dialoge sind auf ein Minimum reduziert.
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Eine Geschichte erzählt er dennoch, freilich als Martyrium. „EO“ begleitet den Titelhelden auf seiner Odyssee vom polnischen Wanderzirkus bis nach Italien. Auf der langen Reise wird er weitergereicht, geschlagen und verkauft, muss Lasten ziehen oder als Maskottchen eines Fußballvereins dienen. Eo lässt alles stoisch über sich ergehen, bis zum bitteren Ende.
Die Fabel ist unverkennbar eine Hommage an „Zum Bespiel Balthasar“, Robert Bressons Meisterwerk von 1967 über den Leidensweg eines Esels. Die Schlussszene sei das einzige Mal gewesen, dass er im Kino geweint habe, sagt Skolimowski. Diese für ihn ungewöhnliche Emotionalität überträgt er nun auf „Eo“: ein visuell faszinierendes Porträt, unsentimental, aber voller Empathie für das Tierwohl.