Zuletzt waren weiße Ballett-Schwäne des Staatsballetts im Sommer auf einem Ausflugsschiff tanzend auf der Spree unterwegs. In der Staatsoper findet am 23. Dezember nun die 225. Vorstellung von Tschaikowskys abendfüllendem Ballett „Schwanensee“ statt. Die Premiere von Patrice Barts Choreografie fand heute vor 25 Jahren mit Daniel Barenboim am Pult der Staatskapelle statt. Die beliebten und sämtlich ausverkauften sieben „Schwanensee“-Vorstellungen zum Jahreswechsel dirigiert jetzt Paul Connelly.
Frau Theobald, den Begriff Schwanensee kennt wohl jeder. Was macht eigentlich den Zauber gegenüber anderen Balletten aus?
Christiane Theobald Die Ikone „Schwanensee“, die ja für das klassische Ballett an sich steht, ist eine ideale Mischung. Es wird eine Geschichte erzählt, die jeder nachvollziehen kann, weil es um die wahre Liebe geht und um Täuschung. Es liegt die großartige Musik von Tschaikowsky zugrunde. Und es wechseln sich farbige Bilder mit dem Ballet blanc ab – wenn man von klassischen Inszenierungen spricht. Wenn man an „Schwanensee“ denkt, hat man zuerst Frauen auf Spitze im Tutu vor Augen. Aber das ist heute nicht mehr ganz richtig. Es gibt unzählige und diverse Produktionen weltweit, zum Beispiel auch mit Männern im Tutu.
Wie viel Spitzentanz-Tradition und wie viel Moderne braucht das Stück heute?
Für einen modernen „Schwanensee“ kann man sich von allem lösen und sich etwas Neues ausdenken. Für einen klassischen „Schwanensee“, der noch etwas mit der Tradition von Petipa und Iwanow zu tun hat und bei dem das kulturelle Erbe sichtbar bleiben soll, gilt es, eine bestimmte Form zu wahren. Dann gibt es die weißen Akte mit den Schwänen. Eins ist aber wichtig: Tänzerische Qualität muss dabei immer sein.
Was zeigt das Staatsballett?
Wir haben seit einem Vierteljahrhundert diesen „Schwanensee“ von Patrice Bart nach Petipa und Iwanow im Repertoire. Ich hatte damals an der Staatsoper die Dramaturgie für unsere Produktion gemacht. Wir haben die Geschichte in der Zeit der Romanows, der Zarenfamilie, angesiedelt. Unser „Schwanensee“ spielt in einem Glashaus wie in einem botanischen Garten am See. Es ist gleichsam ein Gefängnis und so bekommt alles doppelte psychologische Bedeutung. Der Prinz möchte sich aus seiner Rolle befreien und durchlebt eine Selbstfindung. Die Modernität der Produktion hat sich bis heute gehalten.
„Schwanensee“-Aufführungen sind immer auch ein Namedropping für große Primaballerinen. Wer hat es in Berlin getanzt?
Bei uns wurde die Rolle der Odette/Odile von Steffi Scherzer vor 25 Jahren bis hin zu Polina Semionova und Iana Salenko, die am 23. Dezember tanzen wird, verkörpert. Nadja Saidakova hat die Rolle getanzt und Beatrice Knop. Aber auch Gäste wie Diana Vishneva, Isabelle Guérin, Ludmila Konovalova und Svetlana Zakharova traten in dieser Produktion auf. Wer diese Traumrolle tanzt, braucht in jedem Fall eine stupende Technik und muss eine ausdrucksstarke Künstlerin sein. Odette/Odile ist deshalb eine Traumrolle, weil man einerseits das ganz Lyrische tanzen kann und andererseits als schwarzer Schwan das Furiose, Temperamentvolle zeigen muss.
Sie haben bei der Frage nach Namen für die Hauptrolle gerade etwas gezögert?
Das Besondere an Patrice Barts ,Schwanensee’ ist, dass eigentlich die Königin die Hauptfigur ist. Die Königin ist traditionell eine Nebenrolle, die auch gar nicht auf Spitze tanzt. Patrice Bart wollte sie auf Spitze haben. In unserer Fassung ist sie der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Geschichte. Der Prinz Siegfried hat diese überstarke Mutter, die ihn eng an sich binden möchte. Es geht um die psychische Verknüpfung von Mutter-Sohn-Beziehungen. Und wie man sich daraus löst. Ich habe mich immer gefragt, was der Prinz für eine psychische Konstellation haben muss, um sich in einen Schwan zu verlieben. Wie muss man da drauf sein? Und wie kann man das Märchen glaubhaft auf die Bühne bringen? Bei uns endet es in der großen Tragödie. Unser Prinz wird bloßgestellt, es ist eine große Intrige, die da stattfindet.
Das Spitzenballett und speziell Tschaikowsky stehen seit einigen Jahren unter Kolonialismusverdacht. Was ist am „Schwanensee“ kritisch zu sehen?
Der Kolonialismus spielt bei unserer Inszenierung von „Schwanensee“ eine untergeordnete Rolle, die Situation ist völlig anders als beim „Nussknacker“. Patrice Bart hatte bereits in den farbigen Akten Hand angelegt, wir sehen nicht die Urfassung. Eine anderes kritisches Thema bei diesem Ballett ist die Frage nach Konformität und Individualität, besonders bei den Darstellerinnen der Schwäne. Also wie sehr müssen sie sich gleichen und was ist man bereit, dafür zu tun? Diese Fragestellung gilt es abzuwägen.
Eine schwarze Gruppentänzerin des Staatsballetts hatte sich vor einigen Jahren darüber beschwert, dass sie sich für „Schwanensee“ weiß schminken musste. Der Fall ging sogar vors Bühnenschiedsgericht. Müssen die Schwäne heute nicht mehr weiß sein?
Jede Tänzerin ist bei uns mit ihrer Hautfarbe auf der Bühne zu sehen. Wir schminken nicht mehr weiß.
Wie groß ist die Diskussion über kulturelle Aneignung und Kolonialismus in der Ballettwelt?
Die Diskussion ist sehr wichtig. Es betrifft die Titel, die während der Kolonialzeit entstanden sind und die man heute genau so aufführt wie sie damals ausgesehen haben. Da muss man genauer hinschauen. Es gibt eine Vielzahl von Balletten, die kulturelles Erbe darstellen, aber zu kontextualisieren sind. Aber wir wollen die Stücke deshalb nicht vom Spielplan nehmen.
Wo beginnt die politische Korrektheit im klassischen Ballett? Und wo stößt sie an ihre Grenzen?
Es geht mir nicht um politische Korrektheit. Ich möchte ein Repertoire präsentieren, das niemand ausschließt oder diskriminiert und gleichzeitig das Balletterbe pflegt. Diese beiden Pole sind beispielsweise auch bei „Petruschka“, unserer Premiere im Juni 2023, ein Thema, wo von Strawinsky die Gegenspieler-Figur in der Partitur sehr despektierlich beschrieben wurde. Wir zeigen eine zeitgenössische Interpretation von „Petruschka“, aber wir müssen die Problematik dieses Werkes benennen. Wir müssen beschreiben, in welcher Zeit das Stück entstanden ist. Wir werden es kontextualisieren und dazu Sonderveranstaltungen machen. Im Übrigen können wir davon ausgehen, dass in 100 oder 200 Jahren die Stücke, die in unserer Zeit neu entstanden sind, auch kontextualisiert werden müssen.
Wie lange kann sich im Repertoire ein 25 Jahre alter „Schwanensee“ noch frisch halten?
Wir haben das Bühnenbild gerade wieder neu gebaut, damit unser ,Schwanensee’ wieder Strahlkraft und Frische hat. Der kann locker 25 Jahre weiter laufen.