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„Aftersun“: Verblasste Erinnerungen

| Lesedauer: 3 Minuten
Thomas Abeltshauser
Sie wirken eher wie Geschwister: Sophie (Frankie Corio) und ihr Vater (Paul Mescal).

Sie wirken eher wie Geschwister: Sophie (Frankie Corio) und ihr Vater (Paul Mescal).

Foto: Mubi

Ein melancholischer Film über den Sommerurlaub eines recht ungewöhnlichen Vater-Tochter-Gespanns: „Aftersun“ von Charlotte Wells.

„Meinst du, sie hat uns gehört?“ Auf der Toilette hat eine Jugendliche gerade ihrer Freundin gegenüber damit angegeben, den Abend zuvor einen Typen sexuell befriedigt zu haben, und nicht bemerkt, dass am Waschbecken davor ein junges Mädchen steht. „Wen schert’s. Die ist doch erst neun“, sagt die Freundin beim Rausgehen, das wissende Grinsen der Kleinen entgeht ihnen.

Tatsächlich ist Sophie elf, und hat in ihren jungen Jahren schon mehr gesehen und kapiert als andere. Mit Gleichaltrigen weiß sie meist nicht viel anzufangen. Unterschätzen sollte man sie also keineswegs. Mit ihrem 30-jährigen Vater Calum (Paul Mescal) macht Sophie (Frankie Corio) Urlaub in einem türkischen Badeort, sie werden dort schon mal für Geschwister gehalten.

„Aftersun“: Ein unmögliches Vater-Tochter-Gespann

Das liegt nicht nur an Calums jungenhaftem Aussehen mit Shorts und eingegipsten Unterarm, sondern auch an der entspannt-vertrauten Art, wie die beiden miteinander umgehen und ihrem ganz eigenen Humor. Sophie lebt bei ihrer Mutter in Edinburgh, Calum tut im Urlaub nun sein Bestes – auch wenn er es sich nicht leisten kann –, ist liebevoll und engagiert, aber auch immer wieder ziemlich hilflos und selbst noch ein Mannskind.

Immer wieder scheint eine gewisse Melancholie durch, doch das Ausmaß seiner Verzweiflung und sein Gefühl des Versagens weiß Calum meist zu verstecken. Für Sekunden blitzen Szenen aus seiner Vergangenheit auf, von durchgefeierten Nächten, die eher andeuten als erklären. „Ich hätte nicht gedacht, jemals 30 zu werden“, sagt er einmal, eher zu sich selbst.

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Der Trailer zum Film: „Aftersun“

Mit dem Camcorder halten Vater und Tochter Urlaubsmomente fest und filmen sich gegenseitig. Doch als Sophie ihn fragt, was er in ihrem Alter werden wollte, wenn er erwachsen ist, fordert er, die Kamera auszuschalten. Der tiefe Schmerz eines verletzten Kindes schimmert da durch, und womöglich kommt daher sein Drang, Sophie in allem Selbstvertrauen zu geben. Dabei ermuntert er sie unbedarft zu mancher Situation, der sie in ihrem Alter noch nicht gewachsen ist, und lässt sie auch mal abends allein an der Hotelbar zurück.

Der Film „Aftersun“ ist aus einem doppelten Rückblick erzählt. Als Erwachsene erinnert sich Sophie (nun gespielt von Célia Rowlson-Hall) an den Mittelmeerurlaub und versucht sich einen Reim auf ihren Vater zu machen, den sie zwischen all den schönen Momenten auch als gequälte Seele wahrnahm.

Eines der schönsten Kinodebüts des Jahres

Zugleich basiert das Debüt der schottischen Filmemacherin und Autorin Charlotte Wells zumindest in Teilen auf ihrer eigenen Kindheit. Sie inszeniert diesen Sommerurlaub scheinbar beiläufig, vieles belässt sie im Vagen oder unausgesprochen, wie die Erinnerungen selbst besteht die Handlung aus elliptischen Momenten.

Gerade dadurch schafft Wells es, diese ebenso liebevolle wie problematische Tochter-Vater-Beziehung so berührend zu erzählen. Keine persönliche Nabelschau, sondern eine Geschichte über prägende Erlebnisse, deren Auswirkungen oft erst später im Leben deutlich werden. Und in seinem bittersüßen Tonfall schlicht eines der schönsten Regiedebüts des Jahres.