Weitgehend in Dunkel hüllt das Konzerthaus am Gendarmenmarkt seinen großen Saal beim zentralen Konzert seines Festivals „Aus den Fugen“. Was man in diesem riesigen klassizistischen Raum des ehemaligen Berliner Schauspielhauses anders machen kann, wird anders gemacht. Die festgeschraubten Sitze des Parketts sind entfernt und durch schräge Anordnungen von Plastiksitzen ersetzt. Die Bühne ist soweit in den Publikumsbereich ausgedehnt, dass sechs ausgewachsene Konzertflügel darauf in einem Halbrund Platz haben – dahinter sitzen, ebenfalls in einer ungewöhnlichen Anordnung, die Musikerinnen und Musiker des Konzerthausorchesters.
Der Leitgedanke des Konzerthauses zur Gewinnung neuen Publikums: Man muss es schaffen, mittels der künstlerischen Kernkompetenzen einer konservativ aufgebauten klassischen Konzertinstitution noch irgendwie die Krisen dieser Zeit geistig einzufangen. Das Unerwartete, Unberechenbare könnte man da als Parallele zwischen Konzeptkonzert und Welt ausmachen. Und dann, sonst wäre man vielleicht bei einem Symposium für mehr Nachhaltigkeit besser aufgehoben, soll das alles noch sinnlich überwältigen.
Die Wege, die hier beschritten werden, sind im Publikumsneugewinnungszirkus nicht neu, die Stücke dennoch interessant.
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Es ist eine gute Entscheidung, „limited approximations“ in den Mittelpunkt des kurzen Abends zu stellen. Der Komponist Georg Friedrich Haas treibt Instrumentalklängen auch klassischer Bläser und Streicher konsequent ihre Psychologie, ihre Belegtheit mit der Ästhetik vergangener barocker und klassischer Jahrhunderte aus. Bei ihm klingt das alles wie physikalische Schwingung und Schwebung, wie elementares Naturereignis in einem emotionslosen Weltraum. Diese Art des Schwingens überträgt sich umso mehr auf die Körper der Hörenden – zumal dann, wenn Dirigent Jonathan Stockhammer die Kraft des Klangs durch die Interferenzen von sechs verschieden gestimmten, grün angestrahlten Konzertflügeln im Tremolo in Kombination mit bratzenden und säuselnden Bläsern verzwirbelt.
Im Chor bleiben die Individuen erkennbar
Konzertmeisterin Sayako Kusaka zeigt anfänglich in der d-Moll-Chaconne von Bach, dass sie so ein riesiges Solo-Violinstück zwingend in einen Bogen einfassen kann. Dass der historisch auserzählte Bach in die Archaik des Haas-Stücks übergeht, ist ein bewährtes Hausmittel moderner Konzertdramaturgie.
Großartig singen der Neue Kammerchor Berlin und der Kammerchor des Collegium Musicum Berlin am Ende die 40-stimmige Motette „Spem in alium“ von Thomas Tallis. Der Klang unfasslich vieler Stimmen, der dennoch nicht zu einer amorphen Masse verklebt, sondern die Individualitäten der Singenden in sich bewahrt, ist tatsächlich ein gelungener musikalischer Kommentar zu Klimakrise und Ukrainekrieg. Dass es um jeden einzelnen Menschen geht und im gleichen Moment um uns alle – das kann man auf Nachrichtenseiten jeden Tag von klugen Menschen lesen. Um es sinnlich zu erfahren, braucht man immer noch die Musik alter und neuer Zeiten.