Das gab’s noch nicht: dass sich die Jugend- und die Fachjury bei den Ikarus-Preisen so einig waren. Neun Produktionen waren beim „Theaterpreis für herausragende Berliner Theaterinszenierungen für Kinder und Jugendliche“ nominiert. Je zwei Preise konnten die Jugendjury und die Fachjury vergeben, einen in den Kategorie Kindertheater, einen für Jugendtheater. Ausgewählt haben beide Jurys jeweils das gleiche Stück – unabhängig voneinander, wie sie bei der Preisverleihung im Grips Theater immer wieder betonen. Im Kindertheater erhält „Drachenblut und Blümchenpflaster“ des Theater Zitadelle die beiden mit je 5.000 Euro dotierten Ikarus-Preise, im Jugendtheater „Selfie“ aus dem Grips Theater.
Die Frage, wie man eine Heldengeschichte erzählt
Hochkomisch und tiefernst ist die Ritterinnengeschichte „Drachenblut und Blümchenpflaster”, die der Puppenspieler David Wagner zusammen mit Michael Schwager in Eigenregie inszeniert hat. Martialisch ausstaffiert, marschieren die beiden als Security in einem Puppentheater auf, zwei richtig harte Typen, kräftig berlinernd. So abgebrüht wie sie tun sind sie aber gar nicht: Von den Figuren und Requisiten lassen sie sich zum Theaterspielen verleiten, stellen die Mittelaltersaga nach, deren Textbuch sie vor Ort finden. Und denken neu über ihre Vorannahmen nach: Wie erzählt man eine ‚richtige’ Heldengeschichte?
Des Ritters Schwester etwa interessiert sich fürs Drachenschlachten viel mehr als ihr Bruder. Warum nicht? Und ist es wirklich schlimm, dass der Sohn von Wachmann Peter lieber nicht bei Union spielen will – auch nicht bei Hertha –, sondern im Wald Pilze bestimmen möchte? Passgenau sitzen die Pointen, mit Witz und Tempo wird mit Klischees gegen Stereotype angespielt. Das Publikum der Preisverleihung kommt bei dem fünfminütigen Inszenierungs-Ausschnitt aus dem Lachen nicht mehr heraus.
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Nachvollziehbar machen die Laudationes von Matti aus der Jugendjury und Lena Blessing aus der Fachjury die Vergabe der Ikarus-Preise an „Drachenblut und Blümchenpflaster”. Moral und Humor in schöner Einigkeit, eine vielschichtige, mit Fakten übers Mittelalter angereichert Inszenierung, stets spannend und verständlich, in einem kreativen Bühnenbild, befanden die sieben Entscheiderinnen der Jugendjury. Dass auch die fünf Fachpersonen sich für das Stück des Theater Zitadelle entschieden haben, verwundert nur angesichts der starken Konkurrenz im Kindertheater, etwa durch das „Neinhorn“ des Atze Musiktheater: Regisseurin Birga Ipsen hat das Buch von Marc-Uwe Kling in eine lustvoll rotzfreche Ensembleperformance um die Hauptdarstellerin Guylaine Hemmer verwandelt.
Starke Konkurrenz für die ausgezeichneten Stücke
Stark war auch das Wettbewerbsfeld für die Jugendtheaterpreise – mit dem Anti-Mobbing-Stück „Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“ um eine starke Freundschaft; mit der Anti-Rassismus-Inszenierung „iTalk“ des auf englischsprachige Aufführungen spezialisierten Platypus Theater; mit der Anti-Kriegs-Spiel „Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück“ des Grips Theaters und der Pro-Empowerment-Choreographie „A Human Race“ der Tanzkomplizen. Kinder- und Jugendtheater, das macht diese Auswahl aus insgesamt 83 von der Nominierungsjury gesichteten Berliner Inszenierungen klar, ist lange schon mehr als das bonbonbunte Weihnachtsmärchen, wie auch Axel Prahl betont, Schirmherr der Ikarus-Preise und in den Neunzigern selbst Schauspieler am Grips Theater. Tabufrei geht es um die großen Themen, und immer segeln die Künste für ein junges Publikum dicht am Diskurs.
Brandaktuell ist auch „Selfie“, die ausgezeichnete Produktion des Grips Theaters in der Regie von Maria Lilith Umbach. Das Thema sexueller Konsens erreiche mit dem Theaterstück der kanadischen Autorin Christine Quintana die Bühnen, heißt es im Ikarus-Programmheft. Worum geht’s? Emma kommt dem Bruder ihrer besten Freundin nahe, und nach einer Party landet sie betrunken mit ihm im Bett. Erinnern kann sie sich an nichts, was ihr die Begegnung noch unangenehmer macht. Chris ist sich keiner Schuld bewusst, er hat die Nacht nicht als Übergriff gewertet. Und doch wird die Polizei eingeschaltet. Verhandelt werden in „Selfie“ Selbstbestimmungs-Verhältnisse, die jungen Menschen enorm wichtig sind: Nur ein Ja ist ein Ja. Sex ohne explizite Zustimmung gilt zu Recht als Übergriff, betonen die Jugend- wie die Fachjury in ihren Lobreden auf „Selfie“.
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Neue Gedankenwelten eröffnen
Im Theater als geschützten Raum kann über brisante Themen nachgedacht werden. Kulturelle Bildung, darin sind sich die Rednerinnen und Redner aus Politik und Theater bei dem Branchenereignis einig, ist unverzichtbar. Sie eröffne gedanklich neue Welten, setze Kreativität frei und schaffe Grundlagen für das demokratische Miteinander, sagt der Staatssekretär für Jugend, Familie und Schuldigitalisierung, Aziz Bozkurt. Was Grips-Leiter Philipp Harpain später zu dem Hinweis motiviert, dass sich Berlin kulturelle Bildung auch leisten müsse – eine Verdopplung des Etats für Kinder und Jugendliche etwa sei ein mutiges Zeichen. Wie wäre es hier mit politischer Einigkeit?