Jonathan Stockhammers guter Name steht auch für Produktionen, wie es heißt, die sich nur schwer kategorisieren lassen. Damit sind natürlich nicht die vielen Opern- und Ballettaufführungen oder Sinfoniekonzerte gemeint, die in seinem Kalender stehen. Tatsächlich aber hat der Berliner Dirigent keine Berührungsängste, auch Projekte mit dem Elektropop-Duo Pet Shop Boys, Jazzrocker Chick Corea oder Rapper Saul Williams zu machen. Im Konzerthaus wird er das heimliche Hauptwerk des Festivals „Aus den Fugen“ am 18. November dirigieren. Dann musizieren sechs Pianisten auf mikrotonal gegeneinander verstimmten Klavieren gemeinsam mit dem Konzerthausorchester. Es ist als Konzeptkonzert im dunklen Saal angekündigt.
„Es ist ein superspannendes Stück und ich kenne den Komponisten gut“, sagt der Dirigent über Georg Friedrich Haas’ Konzert mit dem Titel „limited approximations“. „Die Art Erlebnis bei seinem Stück lässt sich nur schwer beschreiben, denn die Klangillusionen gehen weit hinaus über das normale Konzerterlebnis.“ Aber Stockhammer ist nicht nur ein ernsthafter Musiker, sondern auch ein Moderator mit einer Portion Humor. Er erklärt Stimmungen und Mikrotonalität und imitiert zwischendurch schon mal die Sirenengeräusche eines Krankenwagens.
Ein Gefühl von Freiheit vermittelt die mikrotonale Verstimmung der Klaviere
Die mikrotonale Verstimmung gäbe ein Gefühl von Freiheit, von Aufgelöstheit, sagt Stockhammer. „Die Musik scheint zu schweben. Es öffnet am Klavier unfassbare Ausdrucksmöglichkeiten. Man könnte theoretisch diese Musik auch für Instrumente im Orchester komponieren“, sagt er: „Das Problem ist, dass das Ohr immer das spielen möchte, was es kennt.“ Und welcher Musiker will schon falsch spielen. „Wir als Menschen sind auch nicht präzise genug, um einen Zwölftelton zu treffen.“ Das verstimmte Klavier wisse „sich nicht zu verteidigen“.
Stockhammer ist ein leidenschaftlicher Musikerklärer. Aber er weiß, dass sich die verstimmten Klaviere nur schwer vermitteln lassen. „Das klingt alles wissenschaftlich, aber das Erlebnis ist überwältigend“, sagt er: Man frage sich: „Ist das ein Hubschrauber in der Mitte des Orchesters?“
Aus Hollywood stammt Jonathan Stockhammer. Dort wurde er im Dezember 1969 in eine Musikerfamilie hineingeboren. Sein kanadischer Vater war Geiger und Bratschist beim Los Angeles Philharmonic Orchestra. Seine amerikanische Mutter war Flötistin und Professorin. Eine Verwandte heißt Ida Haendel, die vielleicht wichtigste Geigerin im 20. Jahrhundert. Es kommen auch noch Komponisten ins Spiel. „Es war aber nicht mein Vorhaben, Musik beruflich zu machen“, sagt Jonathan Stockhammer. „Später hat es sich als unvermeidbar gezeigt.“ Zunächst hatte er Sinologie und Politologie, später dann Komposition und Dirigieren studiert.
Nach Deutschland kam Stockhammer 1998 als Assistent des dirigierenden Komponisten Peter Eötvös an die Kölner Musikhochschule. Schnell, so betont er, hatte er Kontakte im Bereich Neue Musik überall in Europa. Dann fiel die Entscheidung. „Berlin hat mich einfach gelockt. 2004 bin ich umgezogen,“ sagt er. Zufällig habe er in den ersten zwei Monaten Kontakt zum Karsten Witt Music Management bekommen. Das ist seine Agentur. Mittlerweile sei er auch ein im Rathaus Schöneberg eingebürgerter Deutscher, verheiratet und habe zwei Kinder. „Die Kulturszene ist nach wie vor sehr interessant. Man hat Bauchschmerzen, wenn man einen Abend zu Hause bleibt. Als Familienvater ist es manchmal schwer, nicht nach allem schnappen zu können.“
An der Staatsoper hatte Stockhammer im Oktober „Onegin“-Vorstellungen des Staatsballetts Berlin dirigiert. Im Mai folgen weitere Termine. Der Dirigent schwärmt geradezu von Ballett und Tanz. Er spricht über seine ersten Erfahrungen mit dem belgischen Tänzer und Choreographen Sidi Larbi Cherkaoui, mit dem er Philip Glass’ „Satyagraha“ gemacht hat. Die Produktion war auch an der Komischen Oper zu sehen. „Beim Tanz gehe es nicht nur um die abstrakte Schönheit, sondern es werden auf emotionale Weise Geschichten erzählt, ohne dass es ein Wort braucht“, sagt Stockhammer. Er habe den reichen Vokabelschatz verstanden. Es sei auch etwas, was er als Dirigent am Pult versuche. „Aber ich kann es nicht so schön machen wie Tänzer.“ An der Komischen Oper wird Stockhammer übrigens mit „Akhnaten“ (Echnaton) gemeinsam mit Regisseur Barrie Kosky eine weitere Glass-Oper machen.
Beim Staatsballett Berlin macht er eine Produktion mit Christian Spuck
In Zürich hatte er im vergangenen Jahr ,Boléro/Le sacre du printemps’ dirigiert und bei der Gelegenheit Choreographien von Christian Spuck, dem künftigen Intendanten vom Berliner Staatsballett, kennen gelernt. „Die Arbeit in Zürich erinnerte mich daran, warum ich mal Musiker geworden bin“, sagt Stockhammer. „Es geht um die tief berührenden Momente.“ Es gab offenbar auch viele Gespräche. „Ich werde die erste Produktion, die Christian Spuck als Intendant und Choreograph in Berlin macht, mit ihm zusammen gestalten. Das ist für mich eine große Ehre. Genau genommen ist es selbstsüchtig, weil es mich bereichert.“
Vor Jahren wurde ihm die humorige Frage gestellt, was er als „König von Deutschland“ verändern würde? Damals wollte er vernünftige Frischhaltefolie in den Supermärkten einführen. „Außerdem Freiheitsstrafen für die Verantwortlichen der Musikwarteschleifen bei Vodafon und AirBerlin.“ Inzwischen rege ihn mehr auf, sagt er im Gespräch, dass „mitten in leisen Stellen bei Wagner, Beethoven oder Debussy, wenn wir uns auf die verwundbarsten Momente der Musik einlassen, auf Youtube Werbespots eingespielt werden, die man nicht abschalten kann.“
Konzerthaus am Gendarmenmarkt, Mitte. Tel. 20309-2101 Am 18.11. um 20 Uhr