Ihr Anblick ist einschüchternd. Die berühmte Siegesgöttin Viktoria, die wir normalerweise auf dem Brandenburger Tor nur aus der Ferne in ihrem vierspännigen, römischen Triumphwagen sehen können, ist tatsächlich von imposanter Statur. Und auch das Pferd sowie zwei weitere Pferdeköpfe, an denen man in der offenen Schauwerkstatt im Deutschen Bundestag vorbeischlendert, lassen die Dimension des Berliner Wahrzeichens, der Quadriga, erahnen. Durch die rekonstruierten Gipsmodelle wissen wir jetzt auch, dass die Quadriga Geheimnisse hat und immer noch Rätsel aufgibt.
In der Schauwerkstatt wurde am Donnerstag Bilanz gezogen, nachdem sich vor zwei Jahren die Gipsformerei der Staatlichen Museen, das Landesdenkmalamt und der Deutsche Bundestag entschlossen hatten, die wiederentdeckten Gipsmodelle der Quadriga zusammenzuführen, zu begutachten und zu rekonstruieren. Die Gipsformer haben eine eindrucksvolle Arbeit geleistet. Wissen muss man: Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor ist nicht das Original, sondern nur eine – wie man jetzt auch weiß: unter Zeitdruck entstandene – Nachbildung.
Die Schutzabformung soll 1942 heimlich gemacht worden sein
Die Skulpturengruppe, 1792 von Johann Gottfried Schadow (1764-1850), dem Begründer der Berliner Bildhauerschule, geschaffen, ist im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Und schon beginnen die Rätsel, die in der Schauwerkstatt von den Fachleuten leidenschaftlich diskutiert werden. 1942 soll von der Öffentlichkeit unbemerkt eine Schutzabformung gemacht worden sein. Aber wie? Über Nacht geht so etwas nicht in 40 Metern Höhe. Sichernde Gerüste müssen aufgestellt und das Material hochtransportiert werden. Das Ganze dauere Wochen. Es wird von einem Tarnnetz orakelt, schließlich befand sich Deutschland mitten im Krieg.
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Die Original-Quadriga wurde stark beschädigt. Die Reste – mit Ausnahme eines Pferdekopfes – sind 1950 vom Ost-Berliner Magistrat abgeräumt und zerstört worden. Über Jahre hinweg blieb das Brandenburger Tor ohne Quadriga. Anhand der Gipsabformung von 1942 begann schließlich 1957 die Rekonstruktion in West-Berlin. Im November 1958 wurde die Quadriga wieder aufgesetzt und seither zu einem der beliebtesten Berliner Fotomotive.
Miguel Helfrich, Leiter der Gipsformerei, nannte das restaurierte Gipsmodell am Donnerstag ein „analoges Speichermedium“: „Danach wurde die heutige Skulptur auf dem Brandenburger Tor in Kupfer getrieben.“ Die Fragmente und Modellteile waren in der Schauwerkstatt auf 50 Paletten gelagert worden, die einzelnen Teile waren für die Fertigung der heutigen Kupfer-Quadriga zerschnitten worden. Als Ganzes wurden nur das Gipsmodell eines Pferdes und Viktoria mit ihren großen Flügeln rekonstruiert und aufgebaut.
Ein Geheimnis offenbarte sich in der Pferdegruppe. Ein Pferd ist kleiner. Und die Mähne liegt viel enger und geschmeidiger am Hals an, wodurch die Haltung des Tieres weniger dynamisch wirkt als bei den anderen drei Pferden. Es liegt nahe, dass diese Tierskulptur ausgetauscht wurde. Spuren führen zu Napoleon und nach Frankreich. 1806, nach der Besatzung Berlins durch die napoleonischen Truppen, war die Quadriga als Trophäe auf dem Seeweg über Hamburg nach Paris gebracht worden. Erst 1814 kehrte sie zurück. Die Restauratoren vermuten, dass das vierte Pferd aufgrund von Transportschäden dort ersetzt wurde.
Die Quadriga lag im Schussfeld der Straßenschlachten 1918
Bei der Figur der Viktoria entdeckten die Fachleute Spuren, die darauf hinweisen, dass ein Flügel des Modells in einem anderen Winkel am Rücken angebracht worden war als beim Original von Schadow. Im Original ist die Flügelstellung nicht so gleichförmig. Darüber hinaus sind am Gipsmodell kleine Reparaturspuren durch Bleche zu erkennen, die aus einer umfassenden Restaurierung von 1927 stammen. Dahinter verbergen sich die für Berlin typischen historischen Einschusslöcher. Wobei sie in dem Fall auf die Revolutionskämpfe von 1918 zurückführen, als die Quadriga in der Schusslinie lag.
Spannende Ergebnisse sind vorgelegt worden, leider endet jetzt erst einmal die Wiederentdeckungsphase. Die restaurierten Modelle und die Ergebnisse sollen ab Frühjahr 2023 in einer Ausstellung im Mauer-Mahnmal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Deutschen Bundestags präsentiert werden. Zudem ist ein Dokumentationsband in Arbeit.