Es ist eine Szene, wie man sie in Berlin angesichts der explodierenden Mieten leider für möglich halten muss: Ein Pärchen mit Kind besichtigt eine begehrte Wohnung innerhalb einer Anlage, die sich mit hohen Zäunen gegen die Außenwelt schützt. Die Sicherheitsbeamtin Anna führt durch die Räume. „Herr Richards“, sagt sie am Ende, „Sie müssen das so sehen: Nicht nur Sie müssen zu uns passen, sondern auch wir zu Ihnen.“ Herr Richards fällt daraufhin auf die Knie und bettelt um die neue Bleibe: „Wir sind liebenswerte Nachbarn. Wir lächeln, scherzen, wir gießen die Blumen. Wir halten uns strikt an die Hausordnung und an alle Ruhezeiten.“
Wer nicht reinkommt, muss um sein Leben fürchten
Und doch unterscheidet sich das Hochhaus, das in Natalia Sinelnikovas finsterer Dystopie in einen immergrauen Himmel ragt, in anderer Hinsicht sehr stark von den realen Verhältnissen. Wer hier nicht wohnen darf, zieht zum Selbstschutz mit einer Axt durch die angrenzenden Wälder. Eine nicht näher genannte Bedrohung trennt hier das Innen vom Außen.
Man möchte spontan an ein grassierendes Virus denken, am Strom- und Versorgungsausfälle, vielleicht auch an Kriegszustände – was auch immer der große Angstbasar gerade im Angebot hat. Um die Angst geht es diesem Film im Kern, und es ist ein schöner Kunstgriff der 1989 in St. Petersburg geborenen und im Alter von sieben Jahren nach Deutschland ausgewanderten Regisseurin, ihre Ursachen gezielt unklar zu lassen.
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Im Zentrum steht die Sicherheitsbeamtin Anna (Ioana Iacob), die seit sechs Jahren in dem Hochhaus wohnt, eine Jüdin mit russischen Wurzeln. Sie lebt mit ihrer Tochter Iris (Pola Geiger) in einer kleinen Wohnung im Hochhaus. Iris hat sich im Badezimmer verbarrikadiert, weil sie glaubt, den „bösen Blick“ zu haben – was immer ihr an schlimmen Gedanken in den Kopf kommt, stößt den Menschen auch tatsächlich zu, denkt sie. Sie kommuniziert mit ihrer Mutter nur durch ein eine kleine Öffnung der Tür in Fußhöhe. Sehr lange Zeit kann man ihr Gesicht nicht sehen.
Ein verschwundener Hund und eine Bürgerwehr
Sie ist nicht die einzige Sorge, die Anna hat. Der Hund des Hauswarts Gerti (Jörg Schüttauf) ist verschwunden, niemand hat eine Erklärung dafür. Und dann kommt es auch noch zu einem nächtlichen Zwischenfall beim Ehepaar Drescher (Susanne Wuest und Knut Berger), bei dem eine Engelsfigur entwendet wird.
Hat Anna ihren Job nicht gut gemacht? Im Haus wächst die Paranoia. Um Gerti formiert sich eine Art Bürgerwehr, die mit Golfschlägern bewaffnet über das angrenzende Gelände zieht. Und dann beschließt auch noch die Leitungsrunde, dass sich alle Bewohner erneut um einen Platz im Hochhaus bewerben müssen und gegebenenfalls auch abgelehnt werden können.
Wie die Angst das Denken zunächst betäubt und dann abschaltet, wie zugleich der Eigennutz zum Nachteil des Gemeinschaftsinteresses erst mächtig und dann verheerend wird, zeichnet dieser Film auf eine selten radikale Weise nach, von der auch die Hauptfigur nicht verschont bleibt. Das macht ihn zu einem sehenswerten Debüt, das mit etwas weniger hölzernen Dialogen auch ein herausragendes hätte sein können.
Thriller D/Rumänien 2022 96 min., von Natalia Sinelnikova, mit Ioana Iacob, Pola Geiger, Jörg Schüttauf