Nachwuchswissenschaftler der Stiftung Preußischer Kulturbesitz widmen sich in einer Schau dem Unvollständigen in der Kunst.
Am 19. Mai 1944 traf eine Bombe das Gebäude, das wir heute als die Alte Nationalgalerie auf der Museumsinsel kennen und damals schlicht Nationalgalerie hieß. Das Treppenhaus des Ausstellungshauses wurde vollständig zerstört und mit ihm die Skulptur „Bacchantin auf dem Panther“, die der Bildhauer Theodor Calide im Revolutionsjahr 1848 aus Carraramarmor gefertigt hatte. Von der trunkenen, nackten Frau, die sich auf dem Rücken des Raubtiers räkelt und ihm aus einer Schale Nektar zu trinken gibt, blieb nur ein Torso, den man aus dem Inventar strich und für vier Jahrzehnte ins Depot verbannte – erst 1987 war sie wieder in der Rotunde des Alten Museums zu sehen.
Der Torso bildet den Auftakt der sehenswerten Schau, die Nachwuchswissenschaftler der Staatlichen Museen zu Berlin, des Musikinstrumenten-Museums und der Staatsbibliothek im Ausstellungsraum der Kunstbibliothek eingerichtet haben. Unter dem Titel „In:complete. Zerstört, zerteilt, ergänzt“ werden Fragen nach dem Fragmentarischen in der Kunst formuliert. Das Unvollständige und Beschädigte liegt normalerweise jenseits der kuratorischen Suchscheinwerfer, wenn es um Präsentationen geht. Hier rückt es in den Fokus. „Das Ganze ist das Unwahre“, hatte Theodor W. Adorno in seinen „Minima Moralia“ einen Satz Georg Wilhelm Friedrich Hegels auf den Kopf gestellt.

Und tatsächlich entwickelt sich in der kleinen Ausstellung eine spannende Typologie des Partiellen. Während Calides Skulptur dem Krieg zum Opfer fiel, war es im Fall Adolph Menzels der Künstler selbst, der Hand anlegte. Um 1846 porträtierte er eine der beiden Schwestern Caroline oder Friederike Arnold, Töchter seines Freundes und Mentors Carl Heinrich Arnold – um im Anschluss die Augenpartie mit zackigen Schnitten aus der Leinwand zu entfernen. „Möglicherweise verzweifelte er an der Aufgabe, den charakteristischen Augen-Blick seines Modells realistisch ins Bild zu übertragen“, schreibt Kuratorin Josephine Hein in der Begleitpublikation zur Ausstellung. Ein ähnlicher Fall ist eine japanische Fotografie aus dem Jahr 1892 aus den Beständen der Kunstbibliothek, die zwei Frauen in traditionellen Gewändern zeigt und deutliche Kratzspuren aufweist – hier mag freilich weniger künstlerische Unzufriedenheit als wie auch immer motivierter Bildersturm eine Rolle gespielt haben.
Das Prinzip der „damnatio memoriae“, der absichtsvollen Beschädigung des Andenkens einer Person, bringt seit Jahrhunderten ebenso zuverlässig Fragmente hervor wie die Bedürfnisse des Kunstmarktes. Die Ibn Tulun Moschee in Kairo verfügte über eine Gebetskanzel mit kunstvollen Reliefschnitzereien. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1894 zeigt sie in beklagenswert durchlöchertem Zustand: Die ornamental reich geschmückten Holzfüllungen waren ab 1890 herausgelöst, mit neuen Rahmen versehen und als Einzelstücke auf dem europäischen Kunstmarkt verkauft worden.
Eine weitere interessante Perspektive ist die restaurationsethische Sicht auf das Fragment. Dürfen bei der Wiederherstellung etwa einer kaputten Tonschale die entstandenen Bruchstellen unsichtbar gemacht werden, als habe es sie nie gegeben? Die moderne westliche Praxis verneint dies klar und hat viel Arbeit mit den Retuschierungsbemühungen früherer Restauratoren. Eine charmante Lösung bietet die uralte japanische Technik des Kantsugi, bei der die Bruchstellen mit einem Japanlack mit Goldstaub versehen werden. Die Narbe der Keramik ist hier kein Makel, sondern Auszeichnung. Die Schau bietet hierzu spannendes Anschauungsmaterial.