Konzertkritik

Hinreißend: Léo Delibes’ „Lakmé“ in der Philharmonie

| Lesedauer: 3 Minuten
Matthias Nöther
Der kanadische Tenor Josh Lovell als Gérald und die russische Sopranistin Aigul Khismatullina als Lakmé.

Der kanadische Tenor Josh Lovell als Gérald und die russische Sopranistin Aigul Khismatullina als Lakmé.

Foto: Marcus Lieberenz / bildbuehne.de

Die Deutsche Oper Berlin begeistert das Publikum in der Philharmonie mit einer französischen Perle aus dem Jahr 1883.

Was für ein Opernabend in der Philharmonie: In einer ihrer bewährten konzertanten Aufführungen unbekannter Repertoires präsentiert die Deutsche Oper Berlin eine französische Perle: die Opéra comique „Lakmé“ von Léo Delibes.

Uraufgeführt wurde sie in Richard Wagners Todesjahr 1883 – und das ist kein Zufall. Es ist eine Art Überwindung von Wagners Überwältigungsstrategie mittels überspannten musikdramatischen Dauerfeuers – mittels eines leisen und lyrischen französischen Romantikers. Denn so einer war Delibes.

Man kann sich als klanglichen Horizont der exquisiten jungen Sängerdarsteller kaum etwas besseres vorstellen als das Orchester der Deutschen Oper, das in der Begleitung französischer Musik des 19. Jahrhunderts viel Erfahrung hat. Die Dirigentin Daniela Candillari bewältigt gemeinsam mit den Musikern mal gewissenhaft, mal elegant die auf den ersten Blick kaum nach etwas aussehenden, aber gnadenlos offen und fein glänzend daliegenden Figuren dieser Musik.

Die Brahmanentochter trifft auf englische Kolonialisten

Das romantisch Empfindsame von Delibes trifft auf einen eigentümlichen Stoff des französischen Exotismus, in den es sich aber überraschend gut einwebt: Lakmé ist die Tochter des indischen Brahmanenpriesters Nilakantha (durchschlagskräftig: Bariton Thomas Lehman). Familie und Kaste werden am Rande einer indischen Großstadt konfrontiert mit selbstzufriedenen und etwas tumben englischen Kolonialisten, die der Komponist und seine Librettisten genüsslich als Karikatur vorführen.

Nur die feurige Liebe, die aus dieser Gruppe der junge Offizier Gérald für Lakmé empfindet, eignet sich nicht zur Karikatur, im Gegenteil. In einer phänomenalen Symbiose von sängerischem Schmelz und lyrischer Empfindung stellt der junge kanadische Tenor Josh Lovell, Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, Gérald dar. Das intuitive emotionale Verständnis dieses zarten, transparenten Liebesgesangs dürfte er aus der grundsätzlichen Anlage von Delibes’ Partitur selbst bekommen. Die unaufdringliche Poesie der Musik, die den Hörenden immer Abstand und Raum für eigene Gefühle und Gedanken lässt – es fällt leicht, sich auf sie einzulassen und sie zu genießen, als Ausführender wie als Hörender.

Aigul Khismatullina zwingt das Publikum auf die Stuhlkante

Das Blumenduett zwischen Lakmé und ihrer Dienerin Mallika im ersten Akt soll angeblich durch eine lesbische Liebesszene eines Vampirfilms berühmt geworden sein – in der zarten und musikalisch dezenten Darstellung der Sopranistinnen Aigul Khismatullina und Mireille Lebel denkt man daran nicht sofort. Die drei Akte ranken sich vor allem um die Koloraturarien der Titelgestalt: Die musikalisch und gestisch bewundernswert in sich ruhende Aigul Khismatullina zwingt das Publikum auf die Stuhlkante. Sie bringt schon in ihrer anfänglichen Arie an die Schönheit und Melancholie des Waldes Konzepte europäischer Romantik und das damals noch frische europäische Bild buddhistischer Naturbetrachtung zusammen – Délibes’ poetische Musik sorgt dafür, dass man trotz aller kulturellen Sensibilität und Wokeness heute keineswegs darüber schmunzeln muss. Das Publikum feiert am Ende das vorzügliche Solistenensemble und den Chor der Deutschen Oper.