Roman

Die Kindheit ist gar nicht so schlimm

| Lesedauer: 5 Minuten
Miriam Schaptke
Drehbuchautor und Schrifsteller Arne Kohlweyer.

Drehbuchautor und Schrifsteller Arne Kohlweyer.

Foto: Joachim Blobel

Mit „Ostkind“ hat Arne Kohlweyer einen Coming-of-Age-Roman geschrieben, der in der Nachwendezeit spielt.

Berlin 1992. Seit der Wiedervereinigung hat sich viel verändert: Der neunjährige Marko versucht sich in seinem Alltag zurechtzufinden. „Ich will keinen Kinderkaffee! Ich will richtigen!“, ruft Marko. Der Neunjährige will unbedingt erwachsen sein. Um sein Ziel zu erreichen, hat er eine Liste angelegt. Aufgeführt sind Dinge, die erwachsene Menschen tun: Kaffee trinken, dicke Bücher lesen, rauchen, heiraten. Einen Stichpunkt nach dem anderen versucht der Junge abzuarbeiten.

Marko ist der Protagonist in „Ostkind“, dem Debütroman von Arne Kohlweyer, dem 2017 für den Grimme-Preis nominierten Regisseur und Autor. Das Buch spielt im Juni 1992 in Berlin-Hohenschönhausen. Im Fokus stehen die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf ostdeutsch sozialisierte Menschen – vor allem auf die junge Generation, die die Umwälzung der Wiedervereinigung betraf, die aber noch zu jung war, um sie vollständig zu verstehen.

Eine Art Coming-of-Age Roman

Doch „Ostkind“ ist mehr als ein Geschichtsroman. Es ist eine Art Coming-of-Age-Geschichte, nur dass der Protagonist mit neun Jahren deutlich jünger ist als bei klassischen Titeln des Genres. Die Themen sind die typischen: Marko will sich von seiner Kindheit und seinen Eltern loslösen, er verliebt sich zum ersten Mal. Es geht um alte und neue Freundschaften und um das Ringen mit dem Leben, die großen Fragen und ums Erwachsenwerden(-wollen).

Dass seine Mutter ihn von der Schule abholt, gefällt ihm nicht. Und noch schlimmer ist, dass sie ihn auf dem Heimweg bei der Hand nehmen will. Marko stellt Fragen, die zum Nachdenken veranlassen: Was ist ein Opportunist und warum bezeichnet sein Vater neuerdings den Nachbarn so? Wo liegt der Unterschied zwischen Zufall und Schicksal? Der Schüler will die Wörter verstehen, die die „Großen“ um ihn herum verwenden. Er bemerkt, dass Erwachsene Dinge nicht immer so meinen, wie sie diese sagen.

Die Probleme der Erwachsenen

Über einen Zeitraum von zwei Wochen begleiten die Leser das „Ostkind“ in seinem Alltag - von seinem neunten Geburtstag, am 13. Juni 1992 bis zum 27. Juni 1992. Anders als seine Geburtstage zuvor feiert er diesen ohne seine Freunde: Markos bester Freund, Martin, ist mit seiner Familie nach „Drüben“ gezogen und mit seinem zweitbesten Freund, Ecki, ist die Situation angespannt. Nach der Wiedervereinigung haben sich die Väter der beiden Schüler zerstritten – bezeichnen sich als „Wendehals“ und „Ewiggestriger“. Auch wenn die Kinder den Grund nicht verstehen, beeinflusst die Auseinandersetzung der Väter die Freundschaft der Jungen.

Die Probleme der Erwachsenen verändern Markos Alltag, er ist immer stärker auf sich allein gestellt. Sein Vater Alfred ist Professor für Geisteswissenschaften, arbeitet seit der Wiedervereinigung als Taxifahrer. Seine Mutter Marion hat „Fülosofie“ studiert und ist verzweifelt auf Jobsuche. Seine 17-jährige Schwester, Melanie, will endlich ein eigenes Zimmer, hat ihren ersten Freund und ist öfters launisch. Die Situation zuhause ist angespannt. Und dann ist plötzlich Markos Mutter weg.

Kaffee, Zigarette, Live-Konzert und eine neue Klassenkameradin

In den zwei Frühsommerwochen in Markos Leben passiert viel - er raucht zum ersten Mal, probiert die erste Tasse Kaffee. Er bekommt eine neue Klassenkameradin, Anna, verliebt sich. Er freundet sich mit Robert an und geht mit seiner Schwester Melanie auf sein erstes Live-Konzert.

Ein offenes Ohr für seine Sorgen und Erlebnisse findet Marko bei seinem betagten, weißhaarigen Freund Egon. Dieser wohnt in einer Gartenlaube, nachdem ihm erst gekündigt und er dann von seiner Frau verlassen wurde. Bei Egon fühlt sich Marko ernstgenommen. „Nie antwortete er Marko, dass er etwas noch nicht verstünde oder zu jung sei,“ beschreibt Kohlweyer die Freundschaft zwischen den beiden.

Wende-Klischees: Das unbekannte Obst

Vereinzelt spielt der Autor mit den typischen Klischees der Wiedervereinigung, doch das ist zu verzeihen. So kommen Annas Eltern aus Köln. In Berlin arbeitet ihr Vater im Arbeitsamt als „Vorsitzender aller Beschäftigungslosen“. Bei einem Besuch bietet er Marko einen Granatapfel an, der erstaunt lernt, dass man ausschließlich die roten Kerne isst.

Während Markos Papa, Alfred Wedekind weiterhin den gelben Trabbi fährt, hat Eckis Vater, der „Opportunist“, bereits einen neuen Passat mit Zentralverriegelung. Eine Szene, in der ein glatzköpfiger Neonazi mit Springerstiefeln dem unterschriftensammelnden Marko die Tür öffnet, passiert unvermittelt, wird nicht eingeordnet und spielt im Verlauf des Romans keine Rolle mehr. Sie hätte weggelassen werden können.

Einfühlsam und authentisch schildert Arne Kohlweyer die Gefühle, Gedanken und Probleme, die den jungen Marko beschäftigen. Er nimmt den Leser mit in die Gedankenwelt des Neunjährigen. Auf 160 Seiten ist dem Autor gelungen, private Familienprobleme, die Freuden und Schwierigkeiten des Aufwachsens mit den allgemeinen Auswirkungen der Wiedervereinigung zu kombinieren.

Das „Ostkind“ lebt von seinen kurzen Kapiteln, die chronologisch nach Datum angeordnet sind, von vielen Dialogen und kurzen Sätzen. Freundschaften und Beziehungen, die kleinen Details machen Kohlweyers Roman stark. Markos Bemühungen, erwachsen zu werden sind manchmal komisch, immer herzlich und bringen zum Schmunzeln. So sehr sich Marko auch bemüht erwachsen zu werden, stellt er am Ende fest, dass Kindsein doch gar nicht so schlimm ist.