Kunst

Das sind die Nominierten für den Berlin Art Prize

| Lesedauer: 10 Minuten
Franz Michael Rohm
Das kolumbianische Künstlerduo Mazenett Quiroga präsentiert seine Szenarien in der Galerie Lage Egal [Kimgo].

Das kolumbianische Künstlerduo Mazenett Quiroga präsentiert seine Szenarien in der Galerie Lage Egal [Kimgo].

Foto: Maurizio Gambarini / FUNKE Foto Services

Mehr als 700 Künstlerinnen und Künstler haben sich für den Berlin Art Prize beworben. Die Endauswahl im Überblick.

Zum siebten Mal wird der 2013 ins Leben gerufene Berlin Art Prize vergeben. 2020 und 2021 fiel der Wettbewerb coronabedingt aus. „Wir wollen mit dem Berlin Art Prize die sehr mühevolle Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern der freien Szene würdigen. Nach unserem Selbstverständnis ist der Preis mit dem fetten Namen eine subversive Coverversion der Preisverleihung-Manie im Kulturbereich“, erklärt Alica Reuter. Zusammen mit Kuratorin Leonie Huber, taz-Kulturredakteurin Sophie Jung, Künstlerin und Aktivistin Zoë Claire Miller, den Kuratorinnen Alifyah Imani und Francisca Portugal sowie André Kremer und Han Vogel gehört sie zum Team des Berlin Art Prize.

Rund 700 Künstlerinnen und Künstler haben sich dieses Jahr beworben. Einzige Bedingungen: Die Teilnehmenden müssen in Berlin leben und arbeiten. Materiell zu gewinnen gibt es für die acht Nominierten der Shortlist je eine Solo-Ausstellung. Die rund 138.000 Euro Kosten der Organisation und Ausstellungen kommen über verschiedene Kulturförder-Fonds zusammen. „Mehr als 85 Prozent der Gelder gehen in die Community, zur Realisierung der Ausstellungen und der digitalen Formate“, so Alicia Reuter. Ausgewählt wurden aus den 700 Bewerbungen vom Berlin Art Prize Team 150, aus denen die Jury bestehend aus den Künstlerinnen Candice Breitz, Anna Ehrenstein und Amelie von Wulffen, Kuratorin Alya Sebti und Forscherin Sinthujan Varatharajah in mehreren Schritten eine Shortlist mit acht Projekten wählte. Deren Ausstellungen sind bis 14. Oktober jeweils Fr. - So. zwischen 15 und 19 Uhr geöffnet.

Die Preisverleihung für die ersten drei Gewinner findet am 15. September um 19 Uhr im Acud Club statt. Das umfangreiche Rahmenprogramm des Berlin Art Prize: www.2022.berlinartprize.com

Hana Yoo: Mäusebunker, Nordkorea-Flüchtling und Rattenkammerjäger

In ihrer Ausstellung „Elbow Room“ thematisiert Hana Yoo in zwei Videos die aktuellen, universellen Themen Furcht und Wahrheit. In ihrem Film „Bare Life“ montiert die Künstlerin drei Handlungsstränge zu einem bedrückenden, 16-minütigen Film. Darin mischt Yoo Außenaufnahmen der Mäusebunker genannten ehemaligen Tierversuchsanstalt in Steglitz, Jagdszenen eines britischen Rattenkammerjägers und ein Interview mit einer unkenntlich gemachten Frau aus Nordkorea, die nach einem Fluchtversuch fünf Jahre inhaftiert wurde und der danach erneut die Flucht aus dem kommunistisch regierten Land gelang. „Mein Ansatz ist zu zeigen, wie unterschiedlich Geschichten erzählt werden, je nach dem, welche Wahrheiten und Narrative den handelnden Personen oder auch Organisationen oder Staaten wichtig sind“, sagt die 35-Jährige. Dazu zeigt sie in dem zweiten Video „Your Freedom Song“ eine Montage von Youtube-Filmausschnitten, in denen die aus Nordkorea geflüchtete Frau inzwischen zu einem Influencer-Star in Südkorea geworden ist.

Mazenett Quiroga: Schamanenkunst im urbanen Raum

In der Galerie Lage Egal [Kimgo] präsentiert das kolumbianische Künstlerduo Lina Mazenett und David Quiroga die Ausstellung „Night Vision“. Ein Jahr hat das Paar 2018 im kolumbianischen Teil des Amazonas-Dschungels gelebt. „Uns geht es um die Vermittlung der Kultur der Natur, die Aufhebung der Grenze zwischen den Spezien“, formuliert Lina Mazenett. David Quiroga ergänzt: „Die Trennung der Lebewesen zwischen Mensch und Natur, also Pflanzen, Tiere, Mineralien, dient vor allem dazu, die Ausbeutung der Natur durch den Menschen zu rechtfertigen. Bei unserem Aufenthalt im Urwald haben wir gesehen, welche verheerenden Wirkungen das hat.“ Fasziniert von ihrer mystischen Zeit, im Kontakt mit Schamanen der Ureinwohner, machen sie sich durch ihre Kunst zu deren Komplizen. Präsentiert werden faszinierende, großformatige Urwaldszenerien, die mit einer Mischung aus Öl- und teilweise fluoreszierenden Farben sowie Blattgold die Verbindung zwischen heute und prä-kolumbischen Gesellschaften herstellen. Grandios gelingt dies Verquickung in der Arbeit Motherboard-Motherearth, in der eine Computer-Hauptplatine im Stil der Kunstwerke aus dem Goldmuseum in Bogota zusammengefügt ist.

Bassem Saad: Berlin-Beirut-Connection

Die Ausstellung „Suppose that Rome is not a human habitation“ des jungen libanesischen Künstlers Bassem Saad vereint Aspekte neo-kolonialer Strukturen. Neben Szenen aus seiner durch Bürgerkrieg, Korruption und zuletzt die verheerende Explosion im Hafen von Beirut verwüsteten libanesischen Heimat zeigt Saad Film-Sequenzen der Proteste in Beirut und der Black Lives Matter Bewegung in den USA. In einem weiteren Film und thematisiert er den ökologischen Kollaps im Libanon. Ergänzt wird die Ausstellung durch zwei Installationen von Wirbelsäulenstützen, die auf die furchtbaren Folgen von Verhören durch Militär und Polizei im Libanon hinweisen. Eine Referenz an seinen Aufenthalt in Berlin stellen Wechselbilder dar. Auf einem stellt Bassem Saad die Natur am Flughafensee der abweisenden Architektur der nahen Justizvollzugsanstalt Tegel gegenüber.

Mazen Khaddaj: Nackte Tatsachen

Der drusische Libanese mit deutschem Pass zeigt gleich im Schaufenster, was Gäste seiner Ausstellung „Backbone“ bei Blake Vargas drinnen erwartet: viel nackte Haut. Der 37-jährige Performance-Künstler tanzt im Schwarz-Weiß-Video nackt Bauchtanz. Mehr Provokation geht in einem arabischen Land kaum. In seiner mit „Rückgrat“ zu übersetzenden Schau setzt sich der schwule Künstler in per Video mit persönlichen Ereignissen zwischen Ende 2020 und Ende 2021 auseinander. „Impact“, Treffer, nennt er die Videos. Immer nackt zeigt er in einem gekachelten Raum seine hyperventilierende Reaktion auf den Tod des Vaters, um dessen Liebe er verzweifelt warb. Ein schwuler Künstler, das konnte der konservative Großhändler nicht zulassen. Ein weiteres Video zeigt Khaddaj im selben Raum von Panikattacken geschüttelt, Ergebnis des Verlusts der Heimat durch die massive Explosion im Beiruter Hafen, aber auch Resultat der Trennung von seinem deutschen Ehemann und abgesagte Ausstellungen wegen der Pandemie. Khaddajs Kunst ist eine Katharsis voller Energie, Trauer und erstaunlicherweise: Zuversicht.

Melanie-Jame Wolf: Das Lachen im Halse

Ebenfalls schwarz-weiß sind die Videos der Ausstellung „sarcasm expires quickly“ der Australierin Melanie-Jame Wolf in der kleinen Neuköllner Galerie Centrum. Die Künstlerin lebt seit elf Jahren in Berlin. Seit sechs Jahren beschäftigt sie sich als Autodidaktin mit dem Thema Video-Kunst. In der zwei-Kanal-Video-Arbeit „Acts of Improbable Genius“ im Rahmen des Berlin Art Prize verbindet sie beide Elemente. Auf zwei Bildschirmen ist sie einerseits als wortloser, melancholischer Pierrot zu sehen, auf dem zweiten Bildschirm spielt sie mit faszinierendem Mut zur Hässlichkeit den Prototyp des Standup-Komikers Ron, der uns auf grandios komische Weise vergeblich versucht zu erklären, was gute Comedy ausmacht. Die Präsentation von schweigender Melancholie und selbstüberschätzter Persönlichkeit sind ein hintergründiger Beitrag zur Jetztzeit. „Sarkasmus bringt wenig, wenn du nicht mehr auf Tasche hast. Und Ironie hat auch seine Grenzen, wenn um die Ecke der Faschismus lauert. So ist Comedy“, postuliert Melanie-Jame Wolf. Eingerahmt wird das Video von zwei überdimensionierten ultramarin-blauen Textil-Installationen.

Lucas Odahara: Sprachkunst und Kachel-Akt

In unmittelbarer Nähe des historischen Hafens an der Spree, gegenüber dem Märkischen Museum gelegen, präsentiert Lucas Odahara aus Sao Paulo, Brasilien, „The Master’s Shoes“. Hauptarbeit ist ein Video, in dem Odahara die koloniale Vergangenheit Brasiliens und von Sri Lanka in einem lautmalerischen Gedicht visualisiert. Während der Pandemie stellte er bei Zoomkonferenzen mit einer srilankischen Dichterin und Übersetzerin fest, dass es in beiden Sprachen identische oder fast gleiche portugiesisch-stämmige Wörter gibt. Daraufhin erarbeiteten sie anhand eines Poems von Odahara ein lautmalerisches Text-Video mit singhalesischen, portugiesischen und (für die Ausstellungsbesucher) englischen Untertiteln. Daneben zeigt Odahara Arbeiten auf Papier zum Thema Knoten und zwei Männerakte, gemalt auf Kacheln in Zusammenarbeit mit der Firma B.O.S. Keramik aus Velten. Sie liefert auch die Keramikkacheln für historische Berliner U-Bahnhöfe.

Alicja Rogalska: Kunst am Rande des Abgrunds

Geschichten vom Abgrund, Stories from the Edge, heißt die Ausstellung von Alicja Rogalska. Durch eine Folie vor den Fenstern des Hochhauses an der Leipziger Straße fällt bedrückend oranges Licht, das an Waldbrände oder Katastrophenfilme erinnert. Auf vier Bildschirmen laufen konzeptuelle Videos aus den Jahren 2014 bis 2022. In „Dreamed Revolution“ räsonieren hypnotisiere Aktivisten über eine zukünftige, sozialere Gesellschaft. In „Nova“ spielen Wiener Feministinnen und Queer-Aktivisten in einem Rollenspiel unterschiedliche Positionen ihrer Träume und Wünsche durch. In dem Film „Dark Fibres“ wird die Legende einer Bauernfrau aus Georgien visualisiert, die versehentlich ein Glaserfaserkabel kappte, was zu einen Internet-Blackout in dem benachbarten Land Armenien führte. In Rogalskas aktuellsten Film, „The Feast“, trifft sich eine kleine Gesellschaft zum Abendessen, das aus Energieherstellungsprodukten besteht. Das Prinzip Hoffnung symbolisiert in der Ausstellung aufgeschüttete Erde, aus der neues Leben erwachsen könnte.

Isabell Schulte: Strich für Strich

Es übersteigt fast die Vorstellungskraft, die Herstellung der teilweise zu sechs Quadratmeter großen Bleistiftarbeiten von Isabell Schulte zu vergegenwärtigen. Bis zu vier Monate arbeitet die 34-Jährige an den filigranen Kunstwerken, „es ist wie ein Sog“, sagt sie. Ihre Arbeiten begännen häufig mit einer Grundmelodie, die Schulte Strich für Strich in die Strukturen auf dem Weiß des Papiers umsetzt. Mit einer fantastischen Vielfalt schafft sie geometrische Körper und Elemente, die den Betrachter durch ihre poetische Komposition wie ein Sog in die Kunstwerke ziehen. Neun Arbeiten sind in einem ehemaligen Autohaus neben der Putlitzbrücke zu sehen. Die Entstehung der Werke sei ein Prozess, der sie an soziale Strukturen erinnere, und an die Gleichzeitigkeit von Ereignissen. In ihren zwei aktuellsten hat sich die Künstlerin der Farbigkeit zugewandt. „Ein Experiment“ sagt sie. Auf jeden Fall ein sehenswertes.