Chamäleon-Theater

Akrobaten im Dämmerlicht: „The Mirror“ im Chamäleon Theater

| Lesedauer: 3 Minuten
Ulrike Borowczyk
Die Türme aus menschlichen Körpern reichen zuweilen bis zum Bühnenhimmel.

Die Türme aus menschlichen Körpern reichen zuweilen bis zum Bühnenhimmel.

Foto: Chamäleon Theater

Zeitgenössischer Zirkus mit hohem Anspruch: Die australische Kompanie „Gravity & Other Myths“ gastiert am Chamäleon Theater.

Der Typ in Feinripp-Unterwäsche passt bestens zum Ghettoblaster im Retro-Stil. Hübsch aus der Zeit gefallen. Doch dann dreht er den Regler bis zum Anschlag, bis zum weißen Rauschen. Das Initial für die kreative akrobatische Explosion, die nun folgt und die sich im Laufe der kommenden zwei Stunden stetig steigert. Anfangs werden noch schwarze Vorhänge im Minutentakt beiseite geschoben. Sie enthüllen für wenige Sekunden eingefrorene Skulpturen, bevor sich die Stoffbahnen davor wieder schließen. Eingetaucht ins Dämmerlicht, sieht man Menschentürme aus zwei, drei Akrobaten, die bis zum Bühnenhimmel reichen. Oder flüchtige Bewegungskombinationen. Manche davon sind spiegelbildlich synchron. Nach und nach weichen die Vorhänge, und die Akrobatiken werden dynamischer, komplexer und immer atemberaubender.

Wie man es von der australischen Kompanie Gravity & Other Myths seit ihrem Gastspiel mit „Out of Chaos“ 2019 im Chamäleon kennt, braucht es ein wenig, um in die Erzählung des Weltklasse-Ensembles einzusteigen. So ergeht es dem Zuschauer auch beim neuesten Streich „The Mirror“ in der Regie von Darcy Grant, die erste Uraufführung seit über zwei Jahren mit einem eigens für das Chamäleon maßgeschneiderten Stück. Entwickelt wurde die hochemotionale Performance wie gewohnt kollektiv von Kompanie. Herausgekommen ist konzeptionelle Unterhaltung mit hohem künstlerischen Anspruch. Neuer, zeitgenössischer Zirkus pur. Ein großer Genuss.

Die Leiber stapeln und umschlingen sich

Gravity & Other Myths beherrschen nicht nur die Kunst der Schwerelosigkeit. Bei ihrem Blick in den Spiegel zeigen sie auch, wie man es schafft, sich anzunehmen, wie man ist. Mit etwas Dramatik und einer Portion Humor. Dabei zieht sich die Verwandlung von Sänger und Komponist Ekrem Eli Phoenix wie ein roter Faden durch den Abend. Erst einmal schreibt er „Meat. Fleisch“ auf den LED-Screen. Nichts anderes sind wir Menschen schließlich, von außen betrachtet. Dass die Summe der Teile aber mehr ist als das Ganze, beweisen die Akrobaten mit ihren Choreographien.

Ihre Leiber schlingen sich umeinander, stapeln sich übereinander, bilden immer wieder die ikonischen Türme. Es gibt Hebefiguren im handgemachten Licht und Silhouetten vor dem LED-Screen. Flüge über die Köpfe der anderen hinweg. Die Akrobaten fangen sich auf, stoßen andere weg, erhöhen sich und erniedrigen andere, indem sie sich von Kollegen auf allen Vieren tragen lassen. Oder sie setzen sich gegenseitig in Szene. Bestimmen Gesten und Mimik der anderen. Zeigen so, wie sie jemanden sehen.

Ohne die anderen geht hier gar nichts

Ekrem Eli Phoenix wandelt im blauen Anzug durch das Geschehen, singt dazu, filmt und projiziert sich überlebensgroß auf den LED-Screen. Ein Star, der sich auf einem Thron aus Leibern als Herrscher stilisiert. Marquis de Sade lässt grüßen. Doch ohne den Willen der anderen kann er nicht glänzen, wie sich herausstellt. Zunächst eher spärlich, später mit Streetwear bekleidet, ändert sich das Schwarz-Beige-Schema der Bühnenoutfits zum Ende hin. Plötzlich tragen alle einen bunten Look, jeder in einer anderen Farbe. Als hätten sie gleichsam sich selbst und zueinander gefunden. Nun eingebunden in das Ensemble, steht der Sänger mittendrin in einem sensationellen Schlussbild. Eine perfekte Symbiose aus dem Ich und dem Wir.

Chamäleon Theater, Rosenthaler Str. 40/41, Mitte, Tel. 400 05 90, bis 30.10., Di.-Fr. 20 Uhr, Sbd. So. 18 Uhr