Centrum Judaicum

„Das Schweigen gehört zum Erzählen dazu“

| Lesedauer: 6 Minuten
Volker Blech
„Ende der Zeitzeugenschaft?" heißt die neue Ausstellung in der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum an der Oranienburger Straße.

„Ende der Zeitzeugenschaft?" heißt die neue Ausstellung in der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum an der Oranienburger Straße.

Foto: Paul Zinken

Die Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“ im Centrum Judaicum blickt auf die Berliner Überlebenden.

„Ende der Zeitzeugenschaft?“ hat die Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum ihre neue, großartige Ausstellung überschrieben. Zunächst einmal sind über Jahrzehnte hinweg entstandene Interviews mit Berliner Jüdinnen und Juden über ihre Lebensgeschichten zu entdecken. Das längste Interview mit der 1928 in Berlin geborenen Rita Kuhn ist gut neun Stunden lang. Wer sich auf die Ausstellung einlässt, sollte schon etwas Zeit mitbringen, um sich auf die ein oder andere Lebensgeschichte mit Empathie einlassen zu können. Der Kopfhörer gehört zur Ausstellung. Beiläufig scheinen die Macher davon überzeugt zu sein, dass die junge Generation, die sich heute gerne mit Selfies und Sprachnachrichten selbst inszeniert, diese Art der Audio-Video-Präsentation leichter nachvollziehen kann.

Wer berichtet über die Shoa, wenn es keine Überlebenden mehr gibt?

Das Fragezeichen im Ausstellungstitel ist auf den ersten Blick verwirrend, aber goldrichtig gesetzt. Denn natürlich stellt sich die Frage, wer künftig über die Shoa berichtet, wenn die Überlebenden nicht mehr da sind? Was zuerst eine Altersfrage ist. Das Fragezeichen im Titel steht auch dafür, dass die Ausstellungsmacherinnen eigentlich keine verbindliche Zukunftsaussage treffen wollen, es am Ende der Ausstellung dennoch tun. Die Antwort wird manch einem nicht gefallen.

Mit den Berliner Überlebenden, aber auch mit ihren Nachgeborenen befasst sich die Schau. Ab Mai 1945 wurde Berlin Anziehungspunkt vieler Überlebender und Rückkehrer. Für die Staatenlosen, sogenannte Displaced Persons, wurden Durchgangslager in Mariendorf, Schlachtensee und Düppel eingerichtet. So begann für viele Juden der Neuanfang. In der Zeit wurden bereits die ersten Interviews mit Überlebenden geführt.

8000 Jüdinnen und Juden überlebten die Shoa in Berlin

Ab 1933 hatten 80.000 Jüdinnen und Juden Berlin mehr oder weniger fluchtartig ins Ausland verlassen müssen. Rund 8000 überlebten die Shoa in Berlin, weil sie den Deportationen durch eine Ehe mit nichtjüdischen Partnern entgingen oder aber zur Arbeit in Rüstungsfabriken gezwungen waren. Etwa 1700 Menschen überlebten als sogenannte „U-Boote“ in Verstecken und waren über Monate und Jahre hinweg auf nichtjüdische Helfer angewiesen. Einige wenige organisierten im Untergrund den jüdischen Widerstand. Keine Überlebens- und Lebensgeschichte in der Ausstellung gleicht der anderen. Um die Zeitumstände möglichst präzise einzufangen, richten die Macher ihren Blick auch streng auf die „Gemachtheit“ der Interviews, hinterfragen die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen an die Überlebenden und die Befragenden.

Im historischen Abriss über die „Täter, Opfer und Zeugen“ fällt ein großes Szenenbild aus Boleslav Barlogs Inszenierung von „Das Tagebuch der Anne Frank“ im Schlosspark-Theater auf. Die Premiere war 1956, erst sechs Jahre zuvor war die deutsche Übersetzung veröffentlicht worden.

Viele Überlebende konnten lange nicht über das Erfahrene sprechen. „Das Schweigen gehört zum Erzählen dazu“, sagt Kuratorin Anika Reichwald mit Blick auf die Interviews. Aber auch die Täter hüllten sich lange in Schweigen, weil vieles strafrechtlich relevant war und ist. In einer Vitrine liegen drei Bücher, die man eigentlich in dieser Schau nicht erwartet. Es sind Baldur von Schirachs „Ich glaubte an Hitler“, Albert Speers „Erinnerungen“ und Karl Dönitz’ „Mein wechselvolles Leben“. Parallel zu den NS-Prozessen der 1960er-Jahren versuchten frühere NS-Funktionäre mit ihren Autobiografien von ihrer eigenen Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen abzulenken.

Der US-Film „Holocaust“ hat in Deutschland für Diskussionen gesorgt

Die jüdischen Überlebenden hatten es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen. Als dann im Januar 1979 im westdeutschen Fernsehen der US-amerikanische Vierteiler „Holocaust“ ausgestrahlt wurde, saßen Millionen Deutsche vor ihren Bildschirmen und verfolgten die Leidensgeschichte der Familie Weiss. In der Ausstellung liegt ein Titelblatt des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ vom 29. Januar 1979. „Holocaust: Der Judenmord bewegt die Deutschen“ lautet der Titel, das große Hinguckerfoto zeigt einen jungen, schnittigen SS-Mann mit Totenkopf-Abzeichen.

Jenseits des historischen Abrisses wollen die Ausstellungsmacherinnen etwas vom deutschen Täter-Opfer-Blick wegführen. Deutschland ist längst eine Einwanderungsgesellschaft. Die Gesellschaft ist diverser, auch die jüdische Gemeinschaft ist durch den Zuzug viele Jüdinnen und Juden zumal aus Osteuropa vielfältiger geworden. Ein interviewter Zeitzeuge hatte als Partisan und später in der Roten Armee gegen die Deutschen gekämpft. Er hatte Berlin als Sieger betreten.

Auch die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist diverser geworden

Eigens für die Ausstellung hat die 1980 im ukrainischen Dnipropetrowsk geborene Kuratorin Alina Gromova sechs Berliner Jüdinnen und Juden, einige aus der Enkelgeneration, interviewt. Zwei von ihnen haben ihr Berufsleben der Holocaust-Aufarbeitung verschrieben. Aber es gibt auch andere Positionen. Tal Rimon, 1978 in einem israelischen Kibbuz geboren, war 2014 nach Berlin eingewandert. „Ich bin nicht in Museen gegangen“, sagt sie, „ich habe nicht mit Leuten geredet, ich habe mich nicht in die Rolle einer Israelin mit deutschen Vorfahren begeben, die hierherkommt und sich sofort mit dem Holocaust beschäftigt.“

Artur Bakaev, 1991 in Tadschikistan geboren, scheint etwas irritiert auf die Situation zu schauen. „Die erste Assoziation gefühlt, die Deutschland bis heute mit den Juden hat, ist immer dieses Opferding“. Er erwartet, dass die Leute mal etwas zurücktreten und hinschauen, um wen es heute eigentlich geht. Und so gelingt es der Ausstellung am Ende zu zeigen, dass sich die jüdischen Erben darüber verständigen müssen, wie sie mit den Themen Shoa, Nazis, Befreiung und Zeitzeugenschaft umgehen wollen. Es wird verschiedene Sichtweisen und Kontroversen geben. „Ich glaube nach wie vor“, wird etwa die Berliner Schriftstellerin Olga Grjasnowa zitiert, „dass der 8. und 9. Mai immer noch ein sehr wichtiger Tag ist und auch ein Tag der kollektiven Erinnerung. Aber das ist natürlich immer die Frage: Wem überlassen wir den Tag?“

Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Oranienburger Str. 28-30. Mitte. Ausstellung bis 8. Januar