Berlin. Heimat und Hass: Katrin Henkel inszeniert Thomas Bernhard letzten Roman mit intelligent abgewogener Komik.

Zwei Särge wurden gerade schon durch die schmale Tür ins Haus gewuchtet. Jetzt muss er auch da rein: Franz-Josef Murau steht vor der Tür seines Elternhauses, nähert sich mehrmals mit der Hand der Klinke, zuckt, als berühre er glühendes Eisen, immer wieder zurück, atmet tief ein, neuer Versuch. Er weiß, dass das, was dahinter liegt, ganz und gar nicht schön ist. Irgendwann schafft er es. Der Eiserne Vorhang des Deutschen Theaters fährt nach oben und offenbart das ganze Ausmaß des Schreckens, den seine Heimat und die dazugehörigen Menschen in ihm hinterlassen haben. Er nennt es ein „bis heute nicht therapierbares Trauma.“

Wir sehen: Einen in den Bühnenraum projizierten, düsteren und schier endlosen Tunnel, an dessen Ende ein gleißendes Lichtpünktlein leuchtet, in so weiter Ferne, dass es unmöglich scheint, es jemals zu erreichen. Der Tunnel verschwindet, das Licht bleibt diffus, und Murau findet sich im verdorrten Trauma-Wald seiner Kindheit wieder, zwischen abgestorbenen Bäumen und einem matschigen Tümpel. Ein eisernes Pritschenbett steht da auch und ein gläsernes Gewächshaus, in dem jetzt die beiden Särge der Eltern aufgebahrt sind. Vor dem warten seine beiden Schreckens-Schwestern in unmöglichen grellen Kleidchen schon auf ihn. Das ist alles so gruselig, gemein, absurd und irrwitzig wie der Text, der diesem Theater-Setting zugrunde liegt.

Die nationalsozialistischen Verstrickungen der Eltern

Bernd Moss und Kinderstatist Béla Paul.
Bernd Moss und Kinderstatist Béla Paul. © Monika Rittershaus

Für das Deutsche Theater hat sich Regisseurin Karin Henkel Thomas Bernhards Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“ vorgenommen. Der Text, erschienen im Jahr 1986, ist sein letzter veröffentlichter Roman und mit mehr als 600 Seiten sein umfangreichster. Karin Henkel hat unter Einbeziehung weiterer Bernhard-Texte gemeinsam mit der Dramaturgin Rita Thiele eine Theaterfassung geschrieben, die sehr klug gebaut und gut austariert geraten ist, wie überhaupt dieser ganze Abend in seiner intelligent abgewogenen Komik und Abgründigkeit rundum gelungen und sehr sehenswert ist.

Das ist auch deshalb besonders bemerkenswert, weil im Grunde ja nicht viel passiert, außer der Tatsache, dass der misanthropische Protagonist anlässlich der Beerdigung seiner Eltern, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen, unfreiwillig in seinen verhassten Heimatort und auf den Familiensitz Schloss Wolfsegg zurückkehren muss. Der Rest ist bei Bernhard mäandernder Bewusstseinsstrom, über den sich Muraus Welt-Ekel im Allgemeinen und seine Verachtung für die katholisch-nationalsozialistischen Verstrickungen der Eltern und der gesamten (österreichischen) Gesellschaft entladen.

Bei Karin Henkel und ihrem Ensemble nun ist die ganze deftige Bissigkeit des Textes in dialogische Szenen zerlegt, die über den gesamten zweieinhalbstündigen Abend hinweg hervorragend ineinandergreifen, sich mit dem Bühnenbild von Thilo Reuther verzahnen und alle Facetten dieser zutiefst dysfunktionalen Familie offenlegen. Die Hauptfigur Murau hat sie dafür als Quartett auf die Bühne gestellt: Im Zentrum steht Bernd Moss als knapp fünfzigjähriger gegenwärtiger Murau, der aber immer noch nicht schlauer ist als seine jüngeren Alter Egos. Das weiß er natürlich, und wie weh das tut, blitzt im Spiel von Bernd Moss zwischen Sarkasmus, Anklage und Resignation immer wieder wunderbar hervor.

Braune Soße und Antisemitismus

Den jungen Erwachsenen gibt Daniel Zillmann, der außerdem neben Anja Schneider auch eine der ebenso schrillen wie verkorksten Schwestern spielt. Dann ist da noch der kindliche Franz (alternierend: Béla Paul Lorenz Otlewski und August Usemann) und der jugendlichen Bettnässer-Franz, verkörpert von Linn Reusse. Das funktioniert hervorragend, weil die vom älteren Franz in seiner Erinnerung imaginierten Ichs auf diese Weise greif- und sichtbar werden. Komplett machen das gruselige Familienkabinett der hier ziemlich untote Vater (Manfred Zapatka), der in Nazi-Uniform aus dem Sarg steigt und die ebenso untote Mutter (Almut Zilcher), die beim Abendessen zu Fleisch mit brauner Soße unverhohlen antisemitische Phrasen drischt. Das ist niederschmetternd tragisch und doch auch komisch zugleich, und die große Kunst dieser Inszenierung besteht darin, ganz leicht und elegant beide Seiten gleichermaßen aufzuzeigen. Etwa wenn zur Beerdigungsfeier eine ganze Schar grotesker Alt-Nazis und Würdenträger in einem gläsernen Aufzug aus dem Bühnenboden heraus nach oben fährt und im Gewächshaus lustig Polonaise tanzt.

Aber was ist nun mit der Fantasie des Franz-Josef Murau, der angesichts der Verdorbenheit von allem und jedem am liebsten nicht nur sich selbst, sondern die gesamte Menschheit ausgelöscht sehen würde, frei nach seinem Motto „das Nicht-mehr-Sein ist der Sinn des Lebens“? Karin Henkel hat dafür einen überzeugenden Schluss-Dreh gefunden: Am Ende stehen alle Figuren eingefroren und stumm in der düsteren Szenerie, gemustert von einer Besuchergruppe mit Audioguides auf den Ohren, die an ihnen vorbeizieht. Bestenfalls stehen sie dort als museales Mahnmal für künftige Generationen, wahrscheinlicher aber ist angesichts der Hellsichtigkeit des Bernhardschen Textes, dass sie jederzeit wieder quicklebendig ihr Unwesen treiben könnten. In Wahrheit wissen wir ja ohnehin, dass ihre zahlreichen Alter Egos es allerorten so oder so ähnlich natürlich längst tun.

Deutsches Theater, Schumannstr. 13a, Kartentelefon 28 441 225. Nächste Termine: 26.06. und 03.07.