Rundfunkchor

Gesänge für die 21 Gramm Seele

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Volker Blech
Rachel-Sophia Dries ist designierte Direktorin des Rundfunkchors Berlin.

Rachel-Sophia Dries ist designierte Direktorin des Rundfunkchors Berlin.

Foto: Jörg Krauthöfer / FUNKE Foto Services

Rachel-Sophia Dries stellte in Neukölln ihre erste Saisonvorschau als neue Direktorin des Berliner Rundfunkchors vor.

In einer ehemaligen Friedhofskapelle an der Hermannstraße präsentierte der Rundfunkchor Berlin seine neue Saisonvorschau. Und während die Macher am Dienstag fröhlich ihre Konzertpläne erläuterten, fragte man sich schon, wie viel Schmerzen und Tränen dieser Raum wohl gesehen hat? Heute ist es ein Wohlfühl-Café mit dem Namen „21gramm“. Chefdirigent Gijs Leenaars verwies auf die Experimente des amerikanischen Arztes Duncan MacDougall, der Anfang des 20. Jahrhunderts Sterbende vor und nach ihrem Tod gewogen hatte. Aus der Differenz schlussfolgerte er, das die Seele ein Gewicht von 21 Gramm haben müsse. Solche Geschichten scheint der Chordirigent zu mögen. Er erzählt noch von den 15 Hunden, die MacDougall vergiftete und wog. Die hatten demnach keine Seele.

Musik voller Sehnsucht nach Ritualen und Jenseitssuche

Mag sein, dass Kirchenchöre ebenso wie Profichöre und deren Dirigenten, die sich regelmäßig mit christlichen Gesängen befassen, eine stärkere Sehnsucht nach Ritualen, Menschlichkeit und Jenseitssuche verspüren. Ein Höhepunkt der Saison wird am 14. April 2023 Giuseppe Verdis klanggewaltige „Messa da Requiem“ sein. Es ist ein großes Gemeinschaftsprojekt mit dem Orchester der Deutschen Oper und dem Staatsballett Berlin. Deren designierter Intendant Christian Spuck bringt seine Züricher Choreographie auf die Berliner Opernbühne. Zehn Aufführungen sind bis Ende Juni nächsten Jahres geplant.

„Und dann?“ heißt Leenaars’ Abend über den Tod, der im Radialsystem am 11. Juni 2023 stattfindet. In dem Programm werden Mahlers Adagietto aus der 5. Sinfonie auf den Text „Im Abendrot“ und Pascal Dusapins „Donna eis“ verknüpft. Auch wenn sich der niederländische Chefdirigent am Dienstag mit Erklärungen und Anekdoten vergleichsweise zurückhielt: Der Rundfunkchor wird eine Saison lang Gesänge für die 21 Gramm Seele liefern.

Hans-Hermann Rehberg verlässt den Chor nach 41 Jahren

Aber der stets humorvolle und offenbar auch abgründige Chefdirigent wollte das Podium diesmal mehr seiner künftigen Direktorin überlassen. Rachel-Sophia Dries tritt das Amt im August an. Sie ist die Nachfolgerin von Hans-Hermann Rehberg, der zum Ende der Saison nach 41 Jahren den Rundfunkchor verlässt. Rachel-Sophie Dries brachte bei ihrer ersten Saisonvorschau durchaus eigene Sichtweisen ein, es begann bei der Wahl des Cafés in Neukölln. Es ist schon ein Bekenntnis, sich nicht nur an angestammten Plätzen in Mitte, im Tiergarten oder Charlottenburg zu präsentieren.

Obwohl die neue Chefin zugleich betonte, dass für sie der Rundfunkchor ein Ensemble sei, das, was die Exzellenz und Qualität angehe, seines Gleichen suche und an der Spitze bleiben müsse. „Das aber gleichzeitig in die Gesellschaft hineinwirkt und durch partizipative Formate Chormusik noch stärker für alle Menschen zugänglich macht“, wie sie sagt: „Unsere Lounge ist ja ein Konzertformat, das Menschen für die Musik begeistern möchte, die vielleicht noch Schwellenangst haben, in die Philharmonie zu gehen. Deswegen haben wir den Heimathafen Neukölln gewählt, deswegen haben wir auch eine Moderatorin aus der jüngeren Mediengeneration verpflichtet.“

Das neue Gesicht der Lounge ist Moderatorin Boussa Thiam

Das neue Gesicht der „RundfunkchorLounge“ ist Boussa Thiam, die für verschiedene Radiosender vom RBB bis zum Deutschlandfunk Kultur moderiert. Ihr Name steht für Themen rund um Nachhaltigkeit, Diversität und Feminismus. In der Saisonbroschüre gibt es ein Interview mit der Moderatorin. Sie sucht demnach weniger den Disput, sondern möchte „eine charmante und lockere Atmosphäre“ schaffen. Ob das bei den Themen möglich sein wird? Bei „Bella Italia - La dolce vita?“ soll es um Musik, aber auch um die Mafia und deren Verbindungen nach Berlin gehen. Zur Eröffnung ist ein Abend über Migrationskultur angekündigt. „Wir wollen Themen suchen, die schon eine gesellschaftspolitische Relevanz haben, die etwas mit der Lebenswirklichkeit der Menschen zu tun haben“, sagt Rachel-Sophia Dries. „Auch die Kunst des Alleinseins haben wir ausgewählt, weil die Einsamkeit in der Pandemie eine riesige Rolle gespielt hat.“

63 Mitglieder hat der Rundfunkchor Berlin

Die neue Direktorin der 63 Rundfunkchorist:innen ist gebürtige Berlinerin, Jahrgang 1982. Und sie kennt sich bestens mit dem Profichor aus. Von November 2011 bis September 2018 war sie bereits Leiterin Marketing & Kommunikation. Dann wechselte sie zur Schaubühne, wo sie als stellvertretende PR/Marketing-Chefin zum Team von Thomas Ostermeier gehört. Beim Rundfunkchor hat sie zunächst einen Dreijahresvertrag.

Rachel-Sophia Dries kündigte am Dienstag an, dass der Rundfunkchor wieder ein Abonnement auflegt. Das ist bemerkenswert, weil der Besucher beim Abo „Chor & Orchester“ mit sechs Konzerten einen Überblick über die Berliner Klassikszene gewinnen kann. Der Rundfunkchor ist Partner der großen Berliner Orchester. Bei den Philharmonikern singt der Chor unter Kirill Petrenkos Leitung Mendelssohn Bartholdys „Elias“ oder beim Deutschen Symphonie-Orchester unter Robin Ticciati Händels „Salomon“. Beim Weihnachtskonzert im Berliner Dom dirigiert Leenaars selbst Geistliche Chormusik aus der Ukraine.