Sie singen immer mal wieder, die Täter und Täterinnen. Gleich zu Beginn dieser eindringlichen Dokumentation ist es die antisemitische Variante des „Heckerliedes“, die in den 1930er-Jahren in Deutschland beliebt war – eine widerliche, gegen jüdische Mitmenschen gerichtete Gewaltfantasie. Und einige Minuten danach ist es das berüchtigte, nach Horst Wessel benannte Kampflied der SA und die spätere Parteihymne der NSDAP. „Die Fahne hoch / Die Reihen fest geschlossen“: Sie singen es auswendig und beinahe fröhlich, mit kindlich erhobenen Stimmen, alte Menschen allesamt, die damals jung waren. Die Jungs kamen als Zehnjährige zum Deutschen Jungvolk und mit 14 zur Hitlerjugend, bei den Mädchen war es zuerst der Jungmädelbund, dann der Bund Deutscher Mädel. Einer von ihnen starrt nach dem Singen ins Leere und sagt ratlos: „Tja“.
Ein besonderes Zeitzeugnis
Es sind Momente wie dieser, die Luke Hollands Film zu einem besonderen Zeitzeugnis machen. Holland, selbst Sohn einer zur Flucht aus ihrer Heimatstadt Wien gezwungenen Jüdin und 2020 verstorben, hat seit 2008 mehr als 300 Gespräche mit Vertretern der letzten lebenden Generation geführt, die in der nationalsozialistischen Diktatur gelebt hat. Wir sehen sie in alten Fotoalben blättern und beim Durchsehen vergilbter Parteiunterlagen, und alle äußern sie sich zu ihrer damaligen Rolle. Natürlich ist dabei die Frage zentral, wie der staatlich verordnete Antisemitismus, die alltägliche Entrechtung der Jüdinnen und Juden und schließlich der Holocaust wahrgenommen wurden, und so wird der Film auch zu einer klugen Meditation über Fragen von Wahrnehmung, Erinnerung und Einsicht in eigene Schuld.
Er habe am 9. November 1938 in München an der Feldherrnhalle gestanden, sagt etwa Herbert Fuchs, Jahrgang 1919 und im Nationalsozialismus Obersturmbannführer der Waffen-SS. Er habe gesehen, wie da etwas gebrannt habe und sich keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Erst später habe er erfahren, dass es die Synagoge gewesen sei. Mitleid mit den Juden habe er keines verspürt. Ob es aus seiner Sicht ein Verbrechen gewesen sei, möchte Luke Holland von ihm wissen. „Da müsste man fast ja sagen“, antwortet Fuchs. Im juristischen Sinne sei es wohl die Zerstörung von Eigentum gewesen. Der 1922 in Berlin geborene Karl-Heinz Rinne berichtet dagegen von seiner Fassungslosigkeit in der Charlottenburger Fasanenstraße am selben Abend. Die Feuerwehr habe vor der brennenden Synagoge gestanden, aber nichts unternommen, sagt er. Erst später habe er begriffen, dass sie nur auf die Nachbarhäuser aufgepasst habe.
Augen zu vor der offensichtlichen Wahrheit
Was war bekannt, was konnte man wissen? Ein Mann, der 1940 einen Kriegslehrgang an der SS-Verwaltungsschule Dachau besuchte, behauptet steif und fest, ihm sei von der jüdischen Identität der Häftlinge im Lager nebenan nichts bekannt gewesen, während ein Oberscharführer der SS aus Österreich erklärt, warum das gar nicht möglich sei: Die Häftlinge seien ja regelmäßig zur Zwangsarbeit aus dem Lager geführt worden: „Alle haben das gesehen.“ Ein wichtiger, unbedingt sehenswerter Film.