Konzert

Hymnen als Fluchten: Sven Ratzke in der Bar jeder Vernunft

| Lesedauer: 3 Minuten
Ulrike Borowczyk
Schillernd und virtuos: Sven Ratzke

Schillernd und virtuos: Sven Ratzke

Foto: Hanneke Wetzer

Der deutsch-niederländische Sänger und Entertainer sorgt mit seinen „20th Century Songs“ für großen Jubel

Zum Niederknien großartig, diese Version von „Wild is the Wind“. Die beste gab es bislang von Nina Simone, gefolgt von David Bowie. Sven Ratzke versucht mit seinem Cover gar nicht erst, den Superstars das Wasser abzugraben. Und kommt dadurch sehr nah dran an den perfekten Song. Performt das langsame Liebeslied mit stimmlicher Wucht und doch ungeheuer zart. Natürlich würde der begnadete deutsch-niederländische Sänger und Entertainer nie zugeben, dass er in diesem Moment alles gibt. Er behauptet nämlich, er reiße sich zusammen, um sich nicht zu sehr zu verausgaben. Schließlich will er mit seinen nächsten Auftritten noch so sechs, sieben Stunden auf der Bühne durchhalten. Was er sich verdient hat. Zelebriert er doch seine erste Premiere seit jener Zeit, als wir noch alles konnten. Also vor der Pandemie.

Bei der umjubelten Uraufführung seiner neuen Show „20th Century Songs“ in der Bar jeder Vernunft kokettiert Sven Ratzke herrlich ironisch damit, dass er so einen Live-Auftritt gar nicht mehr gewohnt ist nach zwei Jahren Pandemie. Schon gar keinen, bei dem man die Gesichter der Zuschauer in Gänze sieht. Nicht nur rollende Augen über dem Maskenrand. Von einem Lockdown zu nächsten, hat der 44-Jährige Songs seiner musikalischen Helden zusammengetragen, die ihm über die schwere Zeit geholfen, ihn gerettet haben. Alle aus dem letzten Jahrhundert. Darunter Favoriten wie Annie Lennox, Nick Cave und Leonard Cohen.

Die Müllsäcke der Hildegard Knef

Am Anfang des Abends steht allerdings die Frage, ob man ein Programm wie dieses nicht ändern muss angesichts des Krieges in Europa. Ratzke zitiert dazu Bertolt Brecht. Spricht von den „finsteren Zeiten“. Kommt aber letztlich zu dem Schluss, dass es gerade angesichts der Monstrosität dieses Krieges kleine Fluchten geben muss, in der die Welt draußen bleibt. Daher möchte er sein Publikum in eine Traumwelt entführen. Mit jedem Song und jeder Geschichte auf eine Reise gehen.

Dabei zeigt sich die Einzigartigkeit von Sven Ratzke: In den Neuinterpretationen eignet er sich seine erklärten Lieblings- und Lebenslieder auf unnachahmliche Weise an. Transformiert sie klanglich, ändert Rhythmen und musikalische Genres. Singt sie mit höchster emotionaler Finesse. Verwandelt bekannte Songs wie Jacques Brels „Amsterdam“ oder Prince’ „Kiss“ in spannende, neue Hör-Erlebnisse.

Dann sind da noch seine wilden, dreckigen Geschichten, bei denen er sein verrücktes, inneres Bühnentier von der Leine lässt. Allesamt erstunken und erlogen. Aber mit was für einer schillernden Virtuosität und Fantasie. Die wohl fabelhafteste Art, einen Song anzumoderieren. Wie die von Hildegard Knef, deren Müll Ratzke jeden Sonntag glückselig entgegennimmt. Oder die von Nina Hagen. Her Godness of Punk schenkt ihm ein angelutschtes rotes Bonbon. Das steckt voller Magie und ist so etwas wie der Heilige Gral des Punks. Bei Sven Ratzke indes setzt es die unbändige Lust nach Jazz frei. Spätestens da bringt sich seine absolut großartige Band mit Jetse de Jong am Flügel, Haye Jellema an den Drums und Bassist Florian Friedrich nachdrücklich in Erinnerung. Die kongeniale Begleitung eines phänomenalen Künstlers.

Bar jeder Vernunft, Schaperstr. 24, Wilmersdorf, Tel. 883 15 82, 13.3. um 19 Uhr, 16.-19.3. um 20 Uhr