Berlin. Es ist eine ikonografische Szene, wie Liza Minnelli auf ihrem Stuhl sitzt, freizügig im Dessous. Sofort muss man an Marlene Dietrich denken, sie saß in „Der blaue Engel“ 1931 genauso da Wie sollte man sich auch nicht an ihr orientieren, wenn man 60 Jahre danach wieder einen Film über das Berlin von 1931 macht, wieder mit einer Tingeltangel-Künstlerin im Zentrum?
Liza Minnelli hatte sogar überlegt, ihrer Sally Bowles die Frisur von Marlenes fescher Lola zu geben. Ihr Vater, Hollywood-Legende Vincente Minnelli, riet ihr dagegen, sich an Louise Brooks zu halten: die Femme fatale, die in den 1920er-Jahren aus den USA nach Berlin ging, um hier ein Filmstar zu werden. Wie Sally Bowles in „Cabaret“.
Ein Filmklassiker - endlich wieder auf großer Leinwand zu sehen
Also ließ sich Liza Minnelli ihre ganz persönliche Version eines Bubikopfs schneiden. Statt eines Schlapphuts wie Marlene trug sie einen Bowler. Verpasste ihrer Sally extralange Wimpern. Lieh sich von Regisseur Bob Fosse dessen Männerweste. Und thront nicht bloß auf dem Stuhl, wenn sie ihren Hit „Mein Herr“ singt, sie tut atemberaubende Sachen damit, biegt sich ganz zuletzt quer darüber. Die Szene war auch erst im Kasten, nachdem der Stuhl am Boden festgenagelt wurde. Die Schwerkraft war einfach stärker als die Choreografie.
„Cabaret“ ist längt selbst eine Legende – wie „Der blaue Engel“. Und auch ein Klassiker des Berlin-Films. Wohl jeder hat ihn schon einmal gesehen. Aber die meisten kennen ihn nur aus dem Fernsehen. Uraufgeführt wurde Bob Fosses Verfilmung vor fast genau 50 Jahren, am 13. Februar in New York. Zum Jubiläum wird er jetzt noch einmal am 1. März in der Filmreihe „Hauptrolle Berlin“ gezeigt, die die Berliner Morgenpost gemeinsam mit dem Zoo Palast an jedem ersten Dienstag im Monat veranstaltet. Zu Gast ist dann Katharine Mehrling, die die Sally Bowles in der Bar jeder Vernunft gespielt hat.
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„Willkommen, bienvenue, welcome“, diese Worte, mit denen das Musical beginnt, sind längst zum geflügelten Wort mutiert. Diese Begrüßungsformel und offene Willkommenskultur nimmt der verklemmte Brite Brian (Michael York) wörtlich, als er ins Berlin des Jahres 1931 reist. Auch die Amerikanerin Sally Bowles hat sie wörtlich genommen und sucht hier ihr Glück. Bald schon zieht Brian in ihrer Pension ein. Die beiden leben sich aus in der verruchten Nachtwelt der Metropole und in dem Cabaret, in dem Sally singt. Und sie übersehen lange, dass sie hier gar nicht so willkommen und bienvenue sind.
Denn in Deutschland herrscht längst ein schrill nationalistischer Ton. Überall kleben Plakate der NSDAP. Im Radio hört man ständig von Zwischenfällen mit der SA. Anfangs gibt es auf der Bühne noch Nazi-Parodien und der Besitzer wirft einen Nazi raus. Später wird er von Braunhemden verprügelt, ebenso wie Brian. Am Ende sitzen dann Nazis als die neuen Herren im Cabaret. Aber da ist Brian längst aus der Stadt geflüchtet.
Für den Film wurden eigens neue Lieder komponiert
Der Stoff erlebte eine doppelte Transformation. Christopher Isherwood hat das alles 1931, als er in der Nollendorfstraße 17 wohnte, selbst erlebt und schrieb darüber sein berühmtestes Buch „Leb wohl, Berlin“. 1966 wurde ein Musical daraus, das aber sehr locker mit der Vorlage umging und, im Wissen um den weiteren Verlauf der Historie, ein zweites Paar erfand, die Pensionswirtin Fräulein Schneider und den Gemüsehändler Herrn Schultz, aus deren Glück nichts wird, weil Schultz Jude ist. John Kander und Fred Ebb schrieben dazu Ohrwürmer wie „Willkommen“, „Two Ladies“ und „If You Could See Her through My Eyes“. Das Musical wurde ein Broadway-Erfolg, das zahlreiche Tonys einheimste.
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Liza Minnelli hatte schon 1966 alles getan, um die Sally Bowles zu spielen. Damals war sie abgeblitzt. Nur fünf Jahre später machte sich der Regisseur und Choreograf Bob Fosse an die Verfilmung und nahm den aufstrebenden Star und Judy-Garland-Spross nur zu gern unter Vertrag.
Dafür strich er das ältere Paar und ersetzte es durch den armen Gigolo Fritz Wendel (Fritz Wepper) und die reiche Jüdin Natalia Landauer (Marisa Berenson). Fräulein Schneiders Lieder erklingen nur im Radio. Kander und Ebb schrieben dafür neue wie „Money, Money“ sowie eigens für Liza „Maybe This Time“ und „Mein Herr“: grandiose Show-Nummern, die immer auch die Stimmungen der Figuren von der Bühne aus kommentieren. Und so erfolgreich waren, dass sie in späteren Bühnenfassungen mit aufgenommen wurden.
Außenaufnahmen in Berlin, Innenaufnahmen in München
Der Film sollte ein echtes Zeit-Bild werden. Über das dekadente Berlin, den berühmten Tanz auf dem Vulkan, die offene, diverse Gesellschaft – bis die Nazis damit Schluss machten. Deshalb bestand Fosse darauf, in Deutschland zu drehen. So sind die Nebendarsteller alle deutsch: Fritz Wepper, Helmut Griem, Helen Vita, Ralf Wolter. Aber nur die Außenaufnahmen wurden in Berlin gedreht, am Savignyplatz, im Schlosspark Charlottenburg, in Dahlem und an der Bleibtreustraße 48, denn hier, und nicht in der Nollendorfstraße, haust das Filmpaar. War den Amis das schwule Schöneberg zu anrüchig?
Für die Innenaufnahmen zog man dagegen in die Bavaria-Studios in München. Und weil man dort im Fundus keine Kostüme jener Epoche finden wollte, musste man sich auf Flohmärkten in Paris und London behelfen. Weshalb „Cabaret“ zwar ein Ausstattungsfilm über die 20er-Jahre ist, aber immer auch die Retro-Mode der 70er spiegelt.
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Besonders kurios ist, dass der Film gleich zwei deutsche Synchronisationen erlebte. In der westdeutschen Fassung mit den Stimmen von Hannelore Elsner und Thomas Danneberg fielen einige Szenen zunächst raus, auf die die DDR wegen deren antifaschistischer Kritik besonderen Wert legte. So wurde eine eigene Fassung mit den Stimmen von Angelika Waller und Winfried Glatzeder erstellt. Auch wenn in der westdeutschen Fassung die gekürzten Szenen am Ende wieder eingefügt wurden.
Ein scheinbar historischer und doch ganz aktueller Stoff
Der Rest ist Geschichte. Der Film gewann acht Oscars. Liza Minnelli wurde damit zum Weltstar. Und erst durch die Verfilmung wurde auch das Bühnen-Musical in Deutschland populär. 2004 wurde es auch in der Bar jeder Vernunft inszeniert. Katharine Mehrling gab hier, alternierend mit Anna Loos, die erste Sally Bowles. Und tauschte sich mit Joel Grey aus, der damals zur Premiere anreiste.
Seither wird in jedem Sommer, wenn kein Corona ist, im Tipi am Kanzleramt „Cabaret“ gespielt. Die ideale Show zum Berlin-Besuch. Als die Produktion begann, schien das alles Historie zu sein. Mit jedem Jahr aber wird das Musical über das Heraufziehen rechter Kräfte in Deutschland immer aktueller. Und unheimlicher.
Zoo Palast, 1. März, 20 Uhr, in Anwesenheit von Katharine Mehrling, einer Berliner Sally Bowles.