Berlin. Der brandschatzende, mordende Rosshändler Kohlhaas steht zweieinhalb Stunden lang im Deutschen Theater vor Gericht. Das moralische Urteil wird aber gleich zu Beginn gefällt, denn Regisseur Andreas Kriegenburg zieht die Szene vor, in der der Rächer den Reformator Luther aufsucht. Der selbst ernannte „Statthalter Michaels, des Erzengels“ will beim selbst einst aufrührerischen Gottesmann um Absolution und um Vermittlung in seiner Rechtssache bitten.
Das Treffen findet in einem rohen Bretterverhau (Bühnenbild: Harald Thor) statt, wo der 84-jährige Schauspieler Markwart Müller-Elmau einen eher altersmüden Luther, der seltsamerweise ein Handy in der Hand hält, vorführt. Er ist Teil des Herrschersystem, gegen das Kohlhaas eigentlich aufbegehrt. Max Simonischek zeigt – trotz Pistole in der Hand – einen längst gebrochenen Rächer. Nur in der weltlichen Vermittlung will Luther ihm beistehen. Womit auch der Regisseur sein Urteil gefällt hat.
Eine Neufassung mit sieben schlaglichtartigen Szenen
Der Kleist-Kenner Andreas Kriegenburg hat die berühmte Novelle „Michael Kohlhaas“ in ihrer erzählerischen Linearität aufgebrochen und in sieben schlaglichtartigen Szenen seiner Fassung wieder neu zusammen gesetzt. Es bringt einen Hauch von Ambivalenz ins Geschehen. Die Dramatisierung strahlt Frische aus, auch wenn der Pferdehändler bei ihm nicht zum ostdeutschen Autohändler wird. Kriegenburg hat im Interview betont, dass Kohlhaas kein Querdenker sei.
Im Stück fällt der Begriff Terror. Und überhaupt erinnert eine solche Handlung, die sich auch auf Dresden bezieht, sofort an Pegida. Aber der Regisseur verweigert konkrete Zuordnungen und überlässt die Deutungen dem Berliner Publikum. Vielleicht hängt die Zurückhaltung des Regisseurs auch damit zusammen, dass das Stück bereits im Sommer in Bregenz vor einem anderem Publikum bestehen musste. Internationale Koproduktionen können auch ein Fluch sein, wenn man den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen muss.
Die Menschen hinter Titeln sind jederzeit auswechselbar
Die vorgeführten menschlichen Schweinereien sind sowieso zeit- und ortlos. Die folgende Schlagbaumszene ist beeindruckend auch in ihrer Sprach-Choreographie. Überhaupt sind die Ensembleszenen eine Stärke des Abends. Wobei es zunächst verwirren mag, wenn sich die Schauspieler fröhlich die Rollen wie süße Bonbons zuwerfen, aber es zeigt, dass die Menschen hinter den Titeln und Machtpositionen austauschbar sind.
Die Kleinadligen um Wenzel von Tronka, den Niklas Wetzel gekonnt in seiner ganzen Verschlagenheit darstellt, sind schäbige, sadistische Raubritter, die den arglos durchziehenden Rosshändler nötigen, zwei Pferde als Pfand zurückzulassen. Später wird er die Tiere halbverhungert vorfinden. Darum wird sich der ganze bizarre und maßlos eskalierende Rechtsstreit drehen.
Aber noch fühlt man sich auf der Seite des Pferdehändlers. Das damalige Rechtssystem in seiner Willkür und fürstlichen Vetternwirtschaft wird aufs Korn genommen. Der Konflikt führt schließlich in die höchsten Kreise. Mit den Verhören ist die wohl modernste Szene gelungen. Die am Vorgang Beteiligten müssen nacheinander an ein Mikrofon in Bühnenmitte treten und werden von zwei Ermittlerinnen hart befragt.
Es geht weniger um Fakten, mehr um eine Schuldvermeidung
Aber es geht weniger um die Fakten, als um die bis heute praktizierten Strategien einer Schuldvermeidung. Es gibt die Täter-Opfer-Umkehr, der eine empört sich über die Fragen, ein anderer leugnet seine Zuständigkeit, weil er schon nicht mehr im Amt gewesen sei, der dritte lässt alles teflonartig abgleiten. Es ist eine fast vergnügliche Gesellschaftsanalyse. Kriegenburg lässt an einige Stellen Humor aufblitzen.
Aber Schnitt: Das Martialische der Männergesellschaft zeigt sich eindringlich in der „Feuer und Wut“-Szene. Kohlhaas’ Frau Elisabeth ist nach ihrem Vermittlungsversuch durch gewaltsame Zurückweisung verstorben. Kohlhaas schart seine Männer um sich und wird zum Racheengel. Unisono lassen die rohen Kerle dicke Bohlen auf die Bühne krachen. Im Hintergrund lodern die Flammen auf. Städte brennen. Die Stimmung beginnt zu kippen.
Zum großartigen Ensemble gehören acht Schauspieler und zwei Schauspielerinnen, die allesamt in speckigen Hosen und Jacken und wehenden Mäntel stecken. Der Kaffee wird aus Blechtassen getrunken. Die von Kriegenburg dagegen gesetzte Frauenwelt funktioniert insofern nicht, weil es keine heimelige Familie gibt. Das Ehepaar berührt sich nicht einmal, er ist besessen von seiner Rache.
Die Frauen sind eindringliche Gegengewichte im Stück
Aber in ihrer anklägerischen Härte sind Brigitte Urhausen als Elisabeth und Lorena Handschin eindringliche Gegengewichte. Die Bühne gehöre noch einmal ihm, sagt eine Erzählerin: „Alles danach gehört deinen Kindern. Ich hoffe sie vergessen dich.“ Kohlhaas bekommt sein Recht und wird zugleich hingerichtet. Die letzte Chance, eine Weissagung gegen sein Leben einzutauschen, frisst der Verbohrte buchstäblich in sich hinein. Simonischek führt den Schlussmonolog gekonnt als sprachliche Selbstauflösung vor. Das Publikum spendet Darstellern und Regisseur viel Beifall.