Musik, Klang, Video und Gerüche: Im Hamburger Bahnhof sind die Nominierten des Preises der Nationalgalerie zu besichtigen

Der Gast muss die Schuhe ausziehen, der Boden ist mit weißem Teppich ausgelegt. Der ganze Raum erstrahlt, erhellt durch gleißendes Deckenlicht, in einem fast unwirklich blendenden Weiß, fast möchte man an die künstlichen Interieurs in Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ denken. Aber was die aus Vietnam stammende und in Berlin lebende Künstlerin Sung Tieu im Hamburger Bahnhof inszeniert hat, ist seiner futuristischen Anmutung zum Trotz eine intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit. Genauer: Mit dem Anwerbeabkommen, das die DDR 1980 mit ihrem sozialistischen Bruderstaat Vietnam schloss und das dazu führte, dass mehr als 100.000 Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter ins Land kamen, die nach dem Mauerfall als illegal galten.

An den Wänden hängen gerahmte Listen mit Namen dazu, Früchte intensiver Recherchen im Bundesarchiv. Und im Zentrum findet sich ein verspiegelter Raum, in dem von Vertragsarbeitern hergestellte Radios der Marke Stern sonore Melodien produzieren. Die Fremdheitserfahrung ist in diesem klinischen Ambiente intensiv, allein gebrochen durch an der Wand befestigte Marienkäfer aus Schokolade, die aussehen, als hätten sie sich verlaufen.

Ausstellungsansicht einer Installation von Sandra Mujinga.
Ausstellungsansicht einer Installation von Sandra Mujinga. © Mathias Völzke | Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie

Sung Tieus Installation „Song for VEB Stern-Radio Berlin“ ist eine von vier eindrucksvollen Arbeiten, die im Hamburger Bahnhof im Rahmen des Preises der Nationalgalerie 2021 gezeigt werden. Der Preis wird seit 2000 alle zwei Jahre an Künstlerinnen und Künstler unter 40 Jahren vergeben und ist mit einer Ausstellung im Hamburger Bahnhof im darauffolgenden Herbst dotiert.

In der Vorauswahl konkurriert unter anderem der in Berlin und New York lebende Künstler Lamin Fofana mit Sung Tieu, der seine beiden multisensorischen Installationen „Blues“ (2020) und „Ballad Air & Fire“ präsentiert: rot und blau ausgeleuchtete, mit Gerüchen, elektronischer Musik und Videos ausgestattete Räume, die sich mit Themen wie Migration, Fremdheit und Zugehörigkeit befassen und Texte aufgreifen, die sich mit der Erfahrung von Schwarzen in der westlichen Welt befassen.

Das aus den USA stammende Duo Calla Henkel und Max Pitegoff dokumentiert in einem weiteren Raum seine Auseinandersetzung mit dem Wandel des städtischen Lebens - aktuell ist es mit dem Projektraum „TV Bar“ in der Potsdamer Straße vertreten. Ihre aktuelle Fotoarbeit „Exteriors“ erzählt auch vom Verschwinden kreativer Freiräume im Zuge von Gentrifizierungsprozessen. Die aus der Demokratischen Republik Kongo stammende und in Berlin und Oslo lebende Künstlerin Sandra Mujinga schließlich zeigt mit ihren Skulpturengruppen „Reworlding Remains“ (2021) und „Sentinels of Change“ (2021) dystopische Szenarien, in denen übermenschengroße, gespensterhaft wirkende Geschöpfe eine grünlich ausgeleuchtete Welt durchstreifen. Die international besetzte Jury trifft am 7. Oktober die Entscheidung für die Preisvergabe.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50-51, Mitte. Informationen unter smb.museum