Opernregisseur Barrie Kosky hat „Die Dreigroschenoper“ am Berliner Ensemble als unterhaltsame Show inszeniert. Es gab Jubel, aber auch Buhs.

„Die Dreigroschenoper“ ist natürlich keine Oper, aber Barrie Kosky ist ein Opernregisseur. Und er ist ein leidenschaftlicher Verteidiger des Komponisten Kurt Weill, den er sogar auf einer Höhe mit Richard Wagner sehen will. Mit Bertolt Brechts Welche-auch-immer-Utopien, das weiß man am Ende der Premiere im Berliner Ensemble, hat der gebürtige Australier weniger am Hut. Kosky inszenierte eine schrille Revue über den Selbstdarsteller und Aufreißer Mackie Messer. Es ist Unterhaltung pur, hat Witz, Tempo, Klasse. Die Schauspieler sind großartig. Am Ende jubelt das Publikum, nur der Regisseur muss einige Buhs einstecken.

Es ist eine moderne Inszenierung. Auf der Bühne gibt es keine Bettler oder Huren zu sehen, auch keinen beinharten Polizeichef von London. Das Publikum sitzt zwischendurch quasi mit im leeren Raum, den Macheath alias Mackie Messer einen Pferdestall nennt. Dort will nach kurzer Kennlernphase der Gangster im Smoking seine Polly heiraten. Bei der Gelegenheit wird das von Adam Benzwi geleitete Orchesterchen vorgestellt. Die Musiker werden als Mackies Gangster in die Inszenierung einbezogen, ebenso das Publikum. Denn es gibt auf die Schnelle kein Ständchen neben dem spröden „Hochzeitslied für ärmere Leute“. Die Aufforderung mitzutun richtet sich in den halbdunklen Saal, der Spot fängt einen Besucher ein, dann einen anderen. Das Parkett geht geschlossen in die innere Emigration, es fühlt sich in Reihe 6 Platz 6 an wie in der Schule, wenn man hofft, vom Lehrer nicht gesehen zu werden. Es ist nicht komisch.

Gratwanderung zwischen Traum und Durchtriebenheit

Alle lieben Polly, als die plötzlich die Stimmung rettet und sich aufschwingt, um anmutig ihre Ballade zu singen. Polly Peachum, Tochter des Firmeninhabers „The Beggar’s Friend Ltd“, sieht hinreißend in ihrem weißen Ballkleid. Cynthia Mical verführt auf ihrer Gratwanderung zwischen romantischer Verträumtheit und anerzogener Durchtriebenheit. Überhaupt sind die Peachums, die sich vorsorglich als arm bezeichnen, eine ziemlich mondäne Familie. Die Bettlerfirma muss gegenwärtig ein gut laufendes Geschäft sein.

Dass mit dem Aufschwingen von Polly ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hat ein riesiges Klettergerüst aufstellen lassen. Was zumindest zwei Akte lang für ungewohntes Tempo sorgt und dem Abend guttut. Die Darsteller sind ständig unterwegs, steigen Leitern hinauf, hangeln oder zwängen sich durch die Stangen. Mackies Verfolgungsjagd ist atemberaubend. Der BE-Schauspieler von heute sollte auch ein Artist sein oder zumindest ein großgewordenes Kind.

Der Mackie Messer von Nico Holonics muss eine schwere Kindheit hinter sich gehabt haben, er gehört auf Freuds rote Couch. Holonics führt einen narzistisch-verschwitzten Straßengangster vor. Dieser Haifisch will doch nur geliebt werden. Holonics gelingt eine windige Figur zwischen Joker und Casanova. Deshalb ist keine Frau, die nicht bei Drei auf dem Gerüst ist, vor ihm sicher. Eigentlich ist niemand nirgendwo vor ihm sicher. Wenn er sich im „Kanonensong“ mit seinem einstigen Militärkumpel Brown, dem ihm hörigen Polizeichef, anmutig durchs Gerüst rollt, taucht die Vermutung auf, dass mit Kanonen etwas anderes gemeint sein könnte. Zu Paarungen in verschiedenen Konstellationen scheinen in dieser Inszenierung mehrere bereit zu sein.

Kathrin Wehlisch ist in die Hosen des Polizeichefs geschlüpft und watschelt wie eine Charly-Chaplin-Parodie durch die karge Szene. Diese „Dreigroschenoper“ ist in weiten Teilen eine Slapstickkomödie. Holonics lässt sogar noch, wenn er hoch oben und unerträglich lange am Galgen baumelt, die Rampensau heraushängen.

Nico Holonics als Mackie Messer landet am Galgen.
Nico Holonics als Mackie Messer landet am Galgen. © Joerg Brueggemann / OSTKREUZ

Das Stück beginnt mit der weltberühmt gewordenen Moritat von Mackie Messer und endet nach knapp drei Stunden (mit Pause) mit der später für eine geplante Verfilmung hinzugefügten Strophe, in der Brecht mitteilt, dass man einige Verbrecher im Lichte sieht, aber „die im Dunkeln sieht man nicht“. Damit beginnt der schale Nachgeschmack. Der berühmte Spiegel, der dem Publikum vorgehalten wird, kommt ins Spiel. Demnach leben wir alle in einer übersexualisierten Reality-Showwelt, in der unsere Gefühle kapitalisiert werden und sich alle zu Tode amüsieren. Aha.

Barrie Kosky ist das, was man einen Starregisseur nennt. Er reist gerade zwischen Bayreuth und Berlin hin und her. Bei den Wagner-Festspielen wird noch ein letztes Mal seine grandiose „Meistersinger“-Inszenierung gezeigt. Kosky hat sich an Richard Wagner gerieben und führt dem angestammten Bayreuther Publikum unerbittlich vor, wie viel Antisemitismus in dessen Opernwerk steckt. Das ist eine These, über die es sich zu streiten lohnt. Dem Regisseur ist offenbar in seiner Nähe zu Kurt Weill, der als Komponist vor den Nazis über Paris in die USA floh und am Broadway seine große Karriere fortsetzte, entgangen, dass das Berliner Ensemble eine ähnliche Fallhöhe verdient wie die Bayreuther Festspiele.

„Die Dreigroschenoper“ gehört zum Berliner Ensemble

Im Theater am Schiffbauerdamm war „Die Dreigroschenoper“ am 31. August 1928 uraufgeführt worden. Brecht und seine echten wie künstlerischen Erben sicherten dem Theater bis Ende des 20. Jahrhunderts zu, ein ideologisches Gegenstück zum Bayreuther Geist zu sein. Bis heute wächst einer Neuinszenierung im Berliner Ensemble die Bedeutung zu, etwas Besonderes zu sein. Es muss ein Seismograph für gesellschaftliche Stimmungen und die Machtverhältnisse zwischen Kunst und Politik sein. Man mag sich an der Anti-Kapitalismus-Folklore des Brechtschülers Manfred Wekwerth zu DDR-Zeiten gerieben haben oder zuletzt an Robert Wilsons Ästhetisierung. Aber nie kam das Ensemble in den Verdacht, eine Komödie am Schiffbauerdamm zu sein. Kosky ist in die Uraufführungsfalle getappt.

Über die Uraufführung ist vieles bekannt, etwa, dass sich die Macher zerstritten hatten und möglicherweise gar nicht genau wussten, was sie tun. Erst später habe man das auch musikalisch Neuartige daran entdeckt, ist eine beliebte Auffassung. Gern zitiert ist der strenge Tageszeitungskritiker Alfred Kerr, der nach der Uraufführung meinte, die Leute gingen in „Die Dreigroschenoper“, um sich zu unterhalten und nicht wegen des „Häppchens Kommunismus“. Aber ein Häppchen Brecht muss sein.

Es gibt eine Nähe zum Berlin-Musical „Cabaret“

Der Glitzervorhang zu Beginn und am Ende zeigt, dass Kosky seine „Dreigroschenoper“ in die Nähe des späteren Berlin-Musicals „Cabaret“ rücken will, das im zwielichtigen Milieu der Goldenen Zwanzigerjahre spielt und den Einfluss der Nazis vorausnimmt. In der „Dreigroschenoper“ wird das Gangsterschwein Mackie am Ende überraschend begnadigt und geadelt.

Tilo Nest übernimmt als Bettlerchef Peachum die Rolle des Entertainers, der mit Mikro durch die Geschichte führt und zu Beginn sein Geschäft mit dem Mitleid erklärt. Dieser Peachum hat sein unverrückbar korruptes Weltbild und bringt Halt in die Bühnenwelt. Ebenso formidabel ist Constanze Becker als seine Frau im Pelzmantel. Sie changiert mit tiefer Sprech- und hoher Gesangsstimme durch die Charaktere der Figur. Laura Balzer zeigt als Tochter des Polizeichefs viel Mut zur gesungenen Hässlichkeit. Bettina Hoppe zieht die Spelunkenjenny mit cooler Geradlinigkeit durch.

Musikalisch ist das Stück bei Adam Benzwi, der regelmäßig auch am Dirigentenpult in der von Barrie Kosky geleiteten Komischen Oper steht, in den besten Händen. Es ist der Weillsche Großstadtsound, der diesmal weniger aufs Wohl- und Mitfühlen, sondern auf sprühenden Bläserglanz setzt. Die Musik hält die Show zusammen und den Abend in Schwung. Die Neuproduktion hat zweifellos das Zeug zum Publikumsrenner.