Es ist der Horror dieser Pandemie-Tage: Die Mutter stirbt an Covid-19 im Krankenhaus umgeben von Schläuchen und Maschinen, aber man darf nicht zu ihr. Genau das ist Johanna während des ersten Lockdowns passiert. Ihre Wut über dieses Unrecht ist groß. Und setzt sich fort, weil der Mutter auch das Begräbnis verwehrt wird, das sie sich gewünscht hat. Statt Ascheverstreuen vor Capri mit anschließender dreitägiger Party für Freunde und die Schauspieler ihrer Agentur, gibt es ein minimalistisches Urnenbegräbnis. Maximal sechs Trauernde mit viel Abstand am Grab. Wenn die gegangen sind, kommen die nächsten. Abschiednehmen im Schichtsystem.
Rechtfertigt Menschenlebenrettenwollen einfach alles oder müssen wir einen anderen Weg durch die Pandemie finden? Seit Beginn der Corona-Maßnahmen wird über diese Frage gestritten. Man hat sie auch im Hinterkopf beim Lesen von Thea Dorns neuem Roman „Trost“. Darin beschäftigt sich die Schriftstellerin, Philosophin und TV-Moderatorin nicht nur intensiv mit der Trias Tod, Seuche und Trost. Sie setzt sich auch mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen und Verwerfungen auseinander.
Leser erfahren viel über Gefühls- und Gedankenwelt
Im Untertitel heißt das Buch „Briefe an Max“. Wie die Autorin ist auch ihre Protagonistin studierte Philosophin. Ihr ehemaliger Dozent schickt ihr aus seiner Einsamkeit auf einer griechischen Insel Postkarten. Mal mit Kunst vorne drauf, mal mit malerischer Ansicht. Immer aber mit der Absicht, Johanna Denkanstöße zu geben, damit sie einen Weg aus ihrer Trauer und ihrer Wut herausfindet.
In ihren Briefen an Max lässt Johanna die Leser unmittelbar teilhaben an ihrer Gefühls- und Gedankenwelt. Man wird förmlich hineingezogen in ihr anfänglich aufgewühltes Innenleben. Zunächst steckt sie in einer Zwickmühle fest. Denn natürlich weiß sie, dass es die Vernunft gebietet, Krankenhäuser in einer Pandemie abzuschotten. Andererseits spricht sie dem Staat das Recht ab, einer Tochter zu verbieten, bei ihrer sterbenden Mutter zu sein. Das sei zutiefst unmenschlich.
Dann ist da noch der Tod der Mutter an sich. Die ist nach Italien gereist, obwohl es deutliche Warnungen vor Corona gab. Doch die Leiterin einer Schauspielagentur mit ihrer Sehnsucht nach Kunst und Leben hat sich für die Uffizien, Vino und Meer entschieden. Mitten im Dolce Vita hat das Virus zugeschlagen. Così è la vita, so ist das Leben, wie der Italiener sagt. Doch überwältigt von ihren Gefühlen, weiß die Tochter nicht, wohin mit sich. Soll sie nun wütend auf den Tod an sich sein oder auf ihre leichtfertige Mutter, die mit 84 Jahren noch einmal leben wollte, dafür ein Risiko eingegangen ist und verloren hat.
Wo findet man Trost in einer Zeit, in der Umarmungen bei Begräbnissen verboten sind? Max schickt Johanna eine Postkarte mit Jacques-Louis Davids Bild „Der Tod des Sokrates“, zieht damit ihren Zorn auf sich. Zum einen, weil die Mitteilung wieder nur aus einem Satz besteht. Kürzer als jede SMS. Aber da sich Max der digitalen Welt verweigert, mit einer sehr langen Anreisezeit. Zum anderen zeigt das opulente Gemälde den zum Tode verurteilten griechischen Philosophen umgeben von Freunden. Für Johanna wirkt das wie Hohn. Sie versucht, ihren Schmerz lieber mit Alkohol und Sex zu betäuben. Ohne Erfolg.
Im Bewusstsein, dass Max nicht locker lässt, sie weiter in Richtung Antworten drängt, liest sie schließlich Sokrates. Später den römischen Philosophen Seneca. Langsam kommt Johanna zu dem Schluss, dass wir offenbar nicht mehr in der Lage sind, das Kleingedruckte im Lebensvertrag zu lesen. Dass wir unsere Sterblichkeit und den Tod ausklammern. Verwöhnt durch das „Glück der Dauerunernsthaftigkeit“. Eine fatale Sicherheitsillusion, während ein todbringendes Virus grassiert.
Der Weg zu dieser Wahrheit ist verstellt von vielen Nebenschauplätzen. Von Schauspielern, die Angst um ihre Existenz haben. Von Johannas Kollegen. Denn die Journalistin traut sich nicht mehr, vieles laut auszusprechen. Weil der Zeitgeist so engstirnig geworden ist.
Man muss diese Johanna einfach mögen, die sich mit den Ängsten rumschlägt, die wir alle haben. Mit der Wut und der Trauer, vor der sich viele fürchten. Die sich mit den Widersprüchen unserer Zeit auseinandersetzt und dabei zu anderen Ergebnissen kommt als die Politik. Dabei ist sie weder Coronaleugnerin noch nimmt sie die Pandemie auf die leichte Schulter. Sie sieht allerdings vieles differenziert und mit den Augen einer Philosophin. Schließlich ist es als Denkerin ihre Aufgabe Antworten auf die existenziellen Fragen zu finden. Und vielleicht auch den verloren gegangenen Trost.
Thea Dorn bringt diese Gedanken überaus klug und teils humorvoll auf den Punkt. Verdichtet alles in kristallklaren, geschliffenen Sätzen. Trotz des bitteren Stoffs erzählt sie so mitreißend, dass ihr eine spannende Geschichte gelungen ist. Wie man es von ihr gewohnt ist, ein dringend notwendiger Beitrag zu den ungelösten Fragen der Pandemie. Ein großartiges, scharfsinniges Buch voller Erkenntnisse, das den Leser zu guter Letzt hoffnungsfroh und mit unbändiger Lebenslust entlässt.