Eine schwelende Krise in Nigeria ist nicht das, was uns Europäern in diesen Zeiten näher rückt. Mit der Corona-Pandemie ist sogar unser Interesse für den Bürgerkrieg in Syrien abgeflaut, mit dessen Auswirkungen wir doch viel mehr konfrontiert sind. Mehr jedenfalls als mit Boko Haram, der islamistischen Sekte, die seit Mitte der 2000er Jahre vom Norden Nigerias aus eine Blutspur durch das ganze Land und bis in die angrenzenden Staaten Tschad, Kamerun und Niger zieht. Erst als 2014 im Dorf Chibok fast 300 Schulmädchen durch die Terrorgruppe verschleppt wurden, erzeugten Nachrichten von Boko Haram auch hierzulande ein gewisses Gefühl von Betroffenheit.
Boko Haram – sinngemäß übersetzt bedeutet dies: „Westliche Bildung ist Sünde“. Es ist der Ausgangspunkt und die Pointe des Autors Nepomuk Riva, dass sein Buch „Wissenschaft unter Beschuss“ von einer Universität handelt – von einem Gravitationszentrum westlicher Bildung also. „Unsere Universität hat keinen Tag geschlossen! Wir haben trotz Boko Haram immer weitergemacht.“ Das ist das Zitat, das Riva für seinen Buchrücken wählt und das zunächst eher nach universitärem Merchandising klingt. Jedoch beschreibt dieses Beharren in Nigeria eine Haltung – das Aufbäumen von Wissenschaft und Diskurs gegen fundamentalistische Behauptungen und rohe Gewalt. Dies wird man in dem packenden Buch erfahren.
Die Universität von Maiduguri ist nicht nur eine der größten Nigerias, sie liegt auch im Zentrum des Gründungsgebiet von Boko Haram, der Provinz Borno. Wiewohl das westafrikanische Land mittlerweile das stärkste Wirtschaftswachstum in ganz Afrika verzeichnet, gibt es in dieser nordöstlich an der Grenze zum Tschad gelegenen Provinz bitterarme Gegenden.
Berichtet wird über die Ereignisse von 2002 bis 2017
Nepomuk Riva, von Haus aus Musikethnologe, ist selbst nicht in die Region gereist. Bis heute besteht eine nachdrückliche Reisewarnung. Riva nutzt aber in diesem Buch seine langjährigen Beziehungen zur afrikanischen Akademiker-Szene für eine beeindruckende Innenschau des Konflikts: Er selbst trägt nur ein Vorwort bei und ordnet dann Zitate von Angehörigen der Universität an. Sie haben ihm in Interviews über die Ereignisse von 2002 bis 2017 berichtet: von den Anfängen des radikalen Predigers Mohamed Yusuf und davon, wie er den Hass auf Staat und Gesellschaft bei perspektivlosen Jugendlichen nährte – junge Männer, die als Orte der Bildung ausschließlich Koranschulen kannten. Von kleinen Jugendbanden dann, die zunächst mutwillig gegen die Straßenverkehrsordnung verstießen, dann zu Schlägertrupps wurden und plötzlich über schwere Waffen bis zu Panzern verfügten, ganze Dörfer auslöschten und sich mit dem nigerianischen Militär verlustreiche Schlachten lieferten.
Eine unbestreitbare Qualität des vielstimmigen Buches ist, dass es die katastrophale Entwicklung von einem religiösen Streit zum Bürgerkrieg fast naiv wie eine Fabel erzählt. Altkluge Herleitungen aus der Kolonialgeschichte oder das Thema Dritte-Welt-Problematik fehlen. Dabei sprechen hier Dozentinnen und Dozenten der Universität, die aufgrund ihrer Bildung die Ereignisse politisch einordnen können, aber nie die Vogelperspektive westlicher Beobachter einnehmen. Und auch keine Krokodilstränen vergießen. Sie wissen, dass sie als Angehörige der Universität privilegiert waren:
„Unser Vorteil war, dass die Universität mit einem guten Sicherheitspersonal ausgestattet war. Das Militär konnte unmöglich alle Schulen in den Dörfern beschützen. Die Geschichte von den Chibok-Mädchen ist bekannt, oder? Sie wurden entführt, weil man einfach nicht für ihre Sicherheit sorgen konnte. Die Universität hingegen besitzt eine große Bedeutung für den Staat, deswegen wurde sie beschützt. Jede Menge Sicherheitspersonal war vor Ort. Ich selbst sah keine Alternative, als an der Universität zu bleiben. Ich erinnere mich gut an den Tag, da hielt ich vor den Studierenden meine Vorlesung. Plötzlich hörten wir eine Bombenexplosion und eine Schießerei und alles, was dazu gehörte. Wir taten einfach so, als wäre nichts und machten mit unserem Unterricht weiter. Ein solches Durchhaltevermögen entwickelten wir mit der Zeit.“
„Es soll um Erdölvorräte gehen“
Die Universität von Maiduguri war jedoch kein Elfenbeinturm. Viele der Berichtenden haben sich aus Furcht vor den Spitzeln der Sekte und grausamen Hinrichtungen nicht mehr frei zu Boko Haram geäußert. Eine Heldengeschichte akademischen Geistes scheint lediglich aus der Summe der Erzählungen und ihrem unaufgeregten, stets fast wissenschaftlichen Ton hervor. Denn sie lassen sich nicht ihren Drang zum gewissenhaften Forschen nehmen. „Die Zeit wird nicht alle Wunden heilen, aber die tatsächlichen Gründe hinter all dem werden zu Tage treten. Einige Theorien kommen jetzt schon ein wenig ans Tageslicht. Es soll um Erdölvorräte gehen. Aber man kann nicht sagen, dass das der wirkliche Grund hinter alldem ist.“ Solche Einlassungen wirken manchmal betulich – doch nur, weil westliche Leser gewöhnt sind, mit den Berichten sofort von Experten auch deren finale Interpretation zu erhalten. In dem Maße, wie Nepomuk Rivas Buch über die Entstehung von Boko Haram in seiner Einfachheit wie ein blutiges Märchen wirkt, zeigen seine nigerianischen Gesprächspartner, wie man angemessen über eine afrikanische Gesellschaft spricht.
Nepomuk Riva, Wissenschaft unter Beschuss. Olms, 328 Seiten, 28 Euro.