Der Name löst auch nach fast 100 Jahren immer noch Grauen aus. Fritz Haarmann, das ist sowas wie der deutsche Jack the Ripper. Der berüchtigtste deutsche Serientäter, „der Schlächter“, „der Kannibale“, „der Werwolf von Hannover“, wie man damals sagte. Wie viele junge Männer zwischen zehn und 22 Jahren der Serienmörder umgebracht hat, konnte nie geklärt werden. Wegen 24 Morden aber wurde er 1925 zum Tode verurteilt und hingerichtet.
„Warte warte nur ein Weilchen, dann kommt Haarmann auch zu dir, mit dem kleinen Hackebeilchen macht er Hackefleisch aus dir“, lautete ein Lied jener Zeit. Fritz Lang inspirierte der Fall 1931 zu seinem Klassiker „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, Kurt Raab spielte Haarmann 1973 in „Zärtlichkeit der Wölfe“, Götz George 1995, 70 Jahre nach der Hinrichtung, in „Der Totmacher“. Ein Faszinosum, bis heute.
Der Fall ist nicht nur deshalb so schockierend, weil der Täter seine Opfer zerhackte, durch den Fleischwolf drehte und als Pferdefleisch verkaufte. Sondern auch, weil es früh Hinweise gab, dass in seiner Wohnung viele Jungen verkehrten und nachts Hämmer- und Sägegeräusche zu hören waren. Dennoch wurden lange keine Ermittlungen aufgenommen. Weil Haarmann Polizeispitzel war. Und nebenbei weit schlimmere Verbrechen verübte.
„Haarmann“: Assoziationen zur Serie „Babylon Berlin“
Nun hat der Berliner Autor und Journalist Dirk Kurbjuweit sich des gruseligen Falles angenommen. „Haarmann“ heißt sein Roman schlicht. Das ist ein wenig Etikettenschwindel. Schon vom Cover her: Dessen Gestaltung weckt sofort Assoziationen zur Serie „Babylon Berlin“. Auch dieser Fall spielt in den 1920er-Jahren, allerdings nicht in der anonymen Hauptstadt, sondern in der Altstadt von Hannover.
Größtenteils geht es im Buch aber – glücklicherweise, möchte man fast sagen – nicht um den Mörder, sondern um den Kommissar, der ihn überführen soll. Und da wird der „wahre Kriminalroman“, wie ihn der Verlag im Klappentext anpreist, auch schon fiktiv. Die Polizei ermittelte erst spät, als in der Leine mehrere Totenschädel gefunden wurden.
Im Buch ist die Stadt, ja die ganze Nation, zu diesem Zeitpunkt schon in Aufruhr, weil die noch junge Republik ihr Volk offenbar nicht zu schützen weiß. Die Ermittlungen leitet hier nicht, wie im realen Fall, Heinrich Rätz, sondern ein fiktiver Kommissar namens Robert Lahnstein, der extra nach Hannover beordert wird, um die sich erschreckend häufenden Vermisstenfälle aufzuklären.
Verzweiflung greift um sich
Lahnstein verzweifelt an dieser Aufgabe. Weil immer mehr Jungen vermisst werden, von denen er sich kaum die Namen merken kann, die zu Nummern werden. Immer mehr verzweifelte Eltern sitzen an seinem Tisch, hoffen auf seine Hilfe, sind aber empört, wenn er Fragen zu möglichen sexuellen Kontakten mit anderen Männern stellt: ein Tabu.
Zugleich ist dieser Lahnstein ein Kriegsveteran und ein Traumatisierter wie so viele in dieser Nachkriegszeit. Einer, der seine Familie verloren hat und seine Orientierung, auch die sexuelle. Die Methoden seiner Kollegen, gerade gegen sogenannte „175-er“, widern ihn an. Nimmt er sie in Schutz, wird er verhöhnt. Aber auch sonst sieht Lahnstein seine Ermittlungen immer wieder behindert, sind wichtige Unterlagen verschwunden. Und die allgemeinen Werte im freien Fall. Wen scheren ein paar tote Ausreißer und Stricher angesichts Millionen Kriegsgefallener und allgemeiner Armut?
Immer wieder wird die Handlung unterbrochen und eine zweite Erzählperspektive eingenommen. Wo man Zeuge wird, wie ein junger Ausreißer am Bahnhof von einem Mann angesprochen und eingeladen wird, bei ihm zu übernachten. Lange weiß man nicht, ist das Haarmann? Oder gibt es noch einen zweiten Täter? Nur eins wird klar: Die Zeit läuft ab.
Seelenbild der jungen Weimarer Republik
Schon früh erhält Lahnstein einen Hinweis auf Haarmann. Bald schon sucht er ihn auf. Und es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem der Verdächtige immer einen Schritt voraus scheint. Weil er offenbar gedeckt wird oder Tipps erhält. Das ist spannend zu lesen. Weil der Roman nicht nur ein Krimi ist, der bloß auf Spannung setzt. Sondern – hier Volker Kutschers Romanen, der Vorlage zu „Babylon Berlin“, ähnelnd – ein Zeit- und Seelenbild der jungen, fragilen Weimarer Republik zeichnet.
Als immer mehr Spuren zu Haarmann führen, er aber alles abstreitet, wird ihm beim Verhör auch Folter angedroht. Was den Roman sehr aktuell macht. Sofort denkt man an die Entführung des Bankierssohns Jakob von Metzler 2002. Der Täter führte die Polizei erst nach Androhung von Folter zum Versteck des Opfers, das allerdings schon tot war. Damals entbrannte erneut eine Diskussion, ob eine „Rettungsfolter“ in solchen Fällen nicht doch legitimiert werden sollte.
Auch im Buch entspinnt sich darüber eine Debatte. Kurbjuweit lässt dafür sogar den Philosophen Theodor Lessing auftreten, der den Gerichtsfall 1925 verfolgt hat. Lessings Fazit: „Es darf sie nicht geben, die Folter, niemals. Das Menschenrecht ist eine Totalität. Wer nur einmal zulässt, dass es verletzt wird, bereitet den Boden für die nächste Verletzung.“ Der Roman vertritt diesen Standpunkt leider nicht ganz so klar. Ohne Folter hätte man aus Haarmann vielleicht keines seiner Teilgeständnisse herausbekommen.