Wer sich im Bode-Museum auf einen Spaziergang verabredet, muss nicht lange über den Treffpunkt nachdenken. Stolz dominiert das Reiterstandbild des Großen Kurfürsten die Kuppelhalle, die den Eingangsbereich des Bode-Museums bildet. Es ist eine 1904 gefertigte, galvanoplastische Kupferkopie des bronzenen Standbildes, das Andreas Schlüter zwischen 1697 und 1703 für die Lange Brücke am Berliner Schloss schuf und das heute im Ehrenhof des Charlottenburger Schlosses steht.
Heute sitzen rund um den Kurfürsten ein paar Dutzend junge Menschen mit Zeichenblöcken und Stiften. Ob Perspektive, Lichteinfall oder Oberflächentexturen: Die Halle mitsamt ihren geschwungenen Treppen, den Reliefs, den Säulen und dem Wandschmuck ist eine Herausforderung für Schüler und Kunststudenten.
Wir wollen zuerst das Foto machen und suchen uns ein Eckchen, wo wir die Zeichnenden nicht allzu sehr stören. Julien Chapuis nimmt kurz auf dem Treppensockel Platz, damit Fotograf Reto Klar auch den Reiter ins Visier nehmen kann. Danach gehen wir für ein weiteres Bild kurz vor die Tür ins heute unfreundlich kalte Winterwetter – und mir fällt ein, dass hier, auf dem Vorplatz, einmal ein bronzenes Reiterstandbild des Preußenkönigs Friedrich III. gestanden hat, auf den Großen Kurfürsten in der Halle zureitend. Es passte nicht ins sozialistische Weltbild und wurde 1951 eingeschmolzen.
Julien Chapuis ist Direktor der Skulpturensammlung und des Museums für Byzantinische Kunst
Während dieses Spaziergangs wird es um länger zurückliegende Zeiten gehen – und dann wieder doch auch um das Heute. Julien Chapuis, geboren 1968 im schweizerischen Lausanne, ist Direktor der Skulpturensammlung und des Museums für Byzantinische Kunst, die im Bode-Museum beheimatet ist und Bildwerke von der Spätantike bis zum beginnenden 19. Jahrhundert umfasst. Doch die Objekte weisen viel mehr Berührungspunkte mit der Gegenwart auf, als man gemeinhin vermuten würde. Dies zu vermitteln, gehört zu den Herzensanliegen von Julien Chapuis.
Wir stehen wieder in der Kuppelhalle und richten den Blick nach oben, wo ein großes Banner mit der Aufschrift „lab.Bode“ angebracht ist. Es ist eine Initiative, die mit finanzieller Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes noch bis Ende 2020 läuft.
Julien Chapuis: „Wir versuchen, neue Formate zu entwickeln“
„Wir versuchen, neue Formate zu entwickeln, um das Museum für junge Generationen relevant zu machen – in Partnerschaft mit neun Berliner Schulen und 23 Museen bundesweit“, erläutert Chapuis. Hinter Initiativen wie dieser steckt nicht nur der Bildungsauftrag, es geht auch um die Zukunft des Hauses: „Die Jugendlichen von heute sind in zwei oder drei Jahrzehnten diejenigen, die über die Verteilung der öffentlichen Gelder entscheiden. Wenn wir eine dauerhafte Verbindung mit dieser Generation nicht schaffen, dann werden wir in 30 Jahren schließen“, sagt Chapuis.
Im Bode-Museum wird einiges unternommen, um dem vorzubeugen. Es geht aber auch darum, Menschen ins Museum zu holen, die sich von einem so ehrwürdigen Haus wie diesem sonst nicht eingeladen fühlen würden. Es gibt ein Kooperationsprojekt zwischen dem Bode-Museum, dem Museum für Islamische Kunst, dem Vorderasiatischen Museum und dem Deutschen Historischen Museum. Es heißt Multaka und soll die Teilhabe geflüchteter Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten ermöglichen.
Es gibt die Reihe „Spielarten der Liebe“, die zusammen mit dem Schwulen Museum entwickelt wurde und die sich, wie das Museum auf seiner Website schreibt, „mit der Vielfalt sexueller Identitäten, ihrer Wahrnehmung, Bewertung und künstlerischer Verarbeitung befassen“. „Wir wollen deutlich machen, dass dieses Haus allen gehört und möchten, dass das Museum lebt“, sagt Julien Chapuis.
Von der großen Kuppelhalle aus haben wir die Kameckehalle durchquert, in der Andreas Schlüters Sandsteingötter ein weiteres Stück verschwundenes Berlin bezeugen: Sie standen einst auf dem Dach der Villa Kamecke in der Dorotheenstraße, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Im dahinter liegenden Raum bleiben wir unter der Kleinen Kuppel kurz vor der festlichen Freitreppe stehen, die von einer Venus und einem Merkur des französischen Bildhauers Jean-Baptiste Pigalle (1714-1785) bewacht wird.
Julien Chapuis nennt Wilhelm von Bode „kulturpolitisches Genie“
Wir sprechen kurz über die Entstehung des Hauses und die Vorschläge, die der Kunsthistoriker Wilhelm von Bode (1845-1929) in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts dafür lieferte. Bode war nicht nur ein rastloser Mitbegründer des modernen Museumswesens, sondern auch ein herausragender Netzwerker, Chapuis nennt ihn „ein kulturpolitisches Genie“.
Er erklärt es anhand der beiden Statuen, vor denen wir gerade stehen: „Bode wollte sie für sein Museum haben; sie gehörten aber Kaiser Wilhelm II. Es waren diplomatische Geschenke von Ludwig XV. von Frankreich an Friedrich den Großen. Ursprünglich standen sie unterhalb des Weinbergs von Sanssouci. Bode hat diese Halle, diesen theatralischen Dekor als Hintergrund für die Präsentation dieser Statuen geschaffen, was sicherlich geholfen hat, den Kaiser dazu zu bewegen, die Skulpturen dem Museum zu schenken. Im oberen Bereich des Raumes wird Friedrich als Staatsmann mit Kriegstrophäen und Generälen verherrlicht. Zugleich weisen die beiden Skulpturen von Pigalle auf seine Rolle als Sammler und Schutzherr der Künste hin.“
Wenn man Julien Chapuis bei seinen diskret französisch eingefärbten Ausführungen zuhört, merkt man schnell, wie sehr ihn der Umgang mit den Zeugnissen der Kunstgeschichte beseelt. Es ist eine ansteckende Begeisterung. Wir gehen weiter und bleiben im Raum mit den süddeutschen Schnitzaltären vor der Ravensburger Schutzmantelmadonna stehen, die um 1480 aus Lindenholz geschaffen und 1850 nach Berlin verkauft wurde.
Die 135 Zentimeter hohe Maria breitet ihren Mantel aus, unter dem Menschen in der Tracht des 15. Jahrhunderts Zuflucht gefunden haben: Männer, Frauen, junge Mädchen, nicht nach Geschlechtern getrennt zu ihren beiden Seiten. Je länger man sie betrachtet, um so mehr rührt die Leichtigkeit, mit der die Idee des Geborgenseins eine zeitliche Distanz von mehr als 500 Jahren überwindet – während gleichzeitig die Ehrfurcht vor der Kunstfertigkeit wächst, die hier jedem Detail gewidmet wurde.
Spätmittelalterliche Kirchenkunst kann man auf Gegenwart reflektieren
Für Julien Chapuis ist die Figur ein Beispiel dafür, wie man auch mit spätmittelalterlicher Kirchenkunst auf die Gegenwart reflektieren kann: „Wenn ich im Zusammenhang mit einer mittelalterlichen Schutzmantelmadonna zum Beispiel über das Bedürfnis nach Schutz spreche, dann ist das etwas, was jeder versteht. Das erlaubt es Besucherinnen und Besuchern, etwas von sich selbst im Kunstwerk wiederzufinden. Das Objekt wird dann zu einem Spiegel, in dem wir erkennen, woher wir kommen und wer wir sind.“
Fast jedes Objekt im Bode-Museum bietet solche Anknüpfungsmöglichkeiten, man muss sie nur sichtbar machen. Wir kommen an der Spreeseite des Museums an. Von hier aus bietet sich ein schöner Blick auf die Monbijoubrücke und den derzeit etwas kahlen Park. Der Raum 114-2 ist Kulturgütern aus Konstantinopel und Byzanz gewidmet.
Chapuis macht auf ein marmornes Kugelspiel aus dem 5. Jahrhundert aufmerksam, das in der Nähe des Fensters steht, ein etwa hüfthoher Block aus Stein. Es ahmte eines der damaligen Wagenrennen nach: Oben wurden verschiedenfarbige Bälle eingeworfen, die dann über ein System aus Bahnen nach unten kullerten – man konnte Wetten abschließen, welcher Ball es zuerst schaffen würde. Ein harmloses Vergnügen für die einen, eine Gefahr für die anderen, die Spielsucht lauerte. Noch so eine Konstante, in der wir uns heute mühelos selbst erkennen können.
Wo wir schon von menschlichen Abgründen sprechen, kann ein eher leidiges Thema nicht ausgespart bleiben. Vor bald drei Jahren, am 27. März 2017, wurde eine rund 100 Kilogramm schwere Big-Maple-Leaf-Goldmünze mit knapp vier Millionen Dollar Materialwert aus dem Münzkabinett im Bode-Museum gestohlen, der Prozess gegen die Tatverdächtigen läuft noch. Aus der Berichterstattung zum Fall war teils irritierende Nachsicht für den „spektakulären Coup“ herauszulesen. Sie vergeht einem schnell, wenn man bedenkt, was der Vorgang für die Belegschaft des Museums bedeutet haben muss.
Der freie Eintritt als Chance für die Museen
Julien Chapuis spricht von einem „wahren Trauma“: „Man empfindet eine Mischung aus Versehrtheit, Scham, und Schuldgefühlen. Die Aufsichten, die hier arbeiten, sind sehr engagiert, sie machen eine hervorragende Arbeit, oft unter schwierigen Bedingungen, und müssen für die Kommentare der Besucher zum Vorfall den Kopf hinhalten. Für die Moral im Museum war der Raub also desaströs.“
Aber das ist es nicht allein. Der Diebstahl hat dem Museum ungewollt einen Stempel aufgedrückt, den es kaum noch loswerden kann: „Wir bemühen uns sehr, positive Programme und erfolgreiche Ausstellungen zu entwickeln, wir versuchen, die Vermittlung zu stärken – zum Beispiel durch das „lab.Bode“. Das sind alles Dinge, die viel Arbeit und Herzblut erfordern, aber verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit auf sich lenken. Nun fahren die Sightseeing-Boote auf der Spree an meinem Fenster vorbei, und bei fast jeder Rundfahrt höre ich: ,Das Bode-Museum, wo die Goldmünze gestohlen wurde’. Ich erwarte kein Mitleid, aber es tut jedes Mal weh, dies zu hören.“
Julien Chapius: „Humboldt Forum wird eine Konkurrenz schaffen“
Dagegen hilft wohl am besten der Blick nach vorn. In der Nachbarschaft des Bode-Museums stehen große Veränderungen an. Im Herbst soll das von hier in fünf Minuten zu Fuß erreichbare Humboldt Forum eröffnen, das große kulturpolitische Repräsentationsprojekt der Hauptstadt. Sieht der Leiter des Bode-Museums darin eine Konkurrenz? Zieht das neue Schloss nicht Interesse von seinem Haus ab, so wie zum Beispiel der Berliner Dom auch um Besucher seiner Kuppel fürchten muss, sobald die Dachterrasse des Humboldt Forums frei zugänglich ist? Momentan sind etwa eine Viertelmillion Besucher pro Jahr zu Gast im Bode-Museum. „Ja, das Humboldt Forum wird eine Konkurrenz schaffen“, sagt Julien Chapuis, „aber es ist auch eine große Chance.“
Zum Beispiel trete das Humboldt Forum mit dem Vorsatz des freien Eintritts an. Den könne sein Haus momentan aus wirtschaftlichen Gründen nicht anbieten, sagt Chapuis. Aber: „Meine große Hoffnung ist, dass der freie Eintritt im Humboldt Forum dazu führen wird, dass in fünf oder zehn Jahren alle Museen in Deutschland frei zugänglich werden.“
Freier Eintritt bedeute, so Chapuis, auch eine „höhere emotionale Teilhabe der örtlichen Bevölkerung“ und helfe den Museen dabei, ihren Auftrag zu erfüllen: „Museen sind Orte, an denen wir zeigen können, dass es zwischen den Kulturen viel mehr Verbindendes als Trennendes gibt – das ist eine wichtige Botschaft in einer Zeit zunehmender Polarisierung in der Öffentlichkeit. Ich erwarte von der Politik das Bekenntnis, dass Museen für die Gesellschaft nicht weniger unabdingbar sind als Krankenhäuser oder Schulen.“
Es wird sich weisen, inwiefern die Politik in Berlin dieses Bekenntnis ablegen wird – momentan sieht es für das Humboldt Forum eher nach bezahlpflichtigen und frei zugänglichen Museumsbereichen aus, eine etwas irritierende Konstellation. Aber vielleicht geschieht hier ja noch etwas. Maximaler Zuspruch ist jedem Museum zu wünschen, das sich um seine Besucher bemüht. Wir sind am Ende unseres Spaziergangs angekommen. In Sichtweite des Reiterstandbilds verabschieden wir uns herzlich.