Ulrich Rasche inszeniert am Deutschen Theater Sarah Kanes „4.48 Psychose“. Ein quälender, ein faszinierender Abend.
Um es gleich zu sagen: Es war eine Qual! Und: Es war faszinierend. War beklemmend und betäubend, erregend, ermüdend, zermürbend und aufputschend dieser Dreistunden-Trip durch die apokalyptischen Albträume und unzumutbaren Wirklichkeiten der Dichterin Sarah Kane mit dem großen leeren Herzen, das nichts auf Erden mehr hatte füllen können. So nahm sich diese Schwester Kleists und Büchners in der Nacht des 20. Februar 1999 mit 28 Jahren das Leben.
Die Autorin erhängte sich mit 28 Jahren in der Psychiatrie
Kane erhängte sich in der psychiatrischen Abteilung einer Londoner Klinik – „mein Leben gefangen im Netz der Vernunft, das ein Arzt gesponnen hat, das Gesunde zu mehren“. Zwei Tage zuvor gab sie – längst eine berühmte Dramatikerin – ihrer Verlegerin das 40-Seiten-Manuskript von „4.48 Psychose“; ihr letztes, von ihrer „suizidären Psychose“ erleuchtetes wie von dieser Krankheit abgerungenes Werk, das Ulrich Rasche im Deutschen Theater inszenierte als Sprechoper: monumental, suggestiv, überwältigend. Auch überfordernd, aber angemessen.
Geht es doch um Scheitern, Leiden, Erlösung durch Tod. Also um große und letzte Dinge des Menschseins, hier gebunden an das eigene, tragische Schicksal der „zur Vernichtung verdammten“ Autorin, die über den blutigen Weltzustand und das Nichtzusammenfinden ihres Körpers und ihrer Seele so hellsichtig verrückt geworden war. „Knipst mir nicht den Verstand aus, indem ihr mich in Ordnung bringt“, wettert die Klinikpatientin mit „Wutschaum im Herzen“, die ihre Depression mit „Zorn“ übersetzt, nicht mit „Krankheit“.
Morgens um 4.48 Uhr ist der „Glücksmoment, da die Klarheit vorbeischaut“. Und der Verstand zugleich „heimgesucht wird von Dämonen“. „4.48 Psychose“ ist ein Text ohne Rollenvorgabe. Ein freischwebendes, lyrisches Gefüge aus Selbstgespräch, pathologischer Beschreibung, Erfahrungsprotokoll, Dialog, aus Stimmen und Gedanken. Ein Aufschrei. Ein stolzes Sehnsuchtslied. Ein weher Abschiedsbrief.
Und: Ein Anschlag aufs Publikum. Brutal wird es herausgefordert, den eigenen Seelen- und Gewissensqualen nachzuspüren. Der versteckten Scham, dem verdrängten Wahn, der zugeschütteten Angst, den verübten Grausamkeiten. Und dem „verblödeten Geist der moralischen Mehrheit“.
Regisseur Ulrich Rasche, 1969 in Bochum geboren, überrumpelte vor drei Jahren in München das Publikum mit zwei Riesenrolltreppen, auf denen Schillers Räubergang auf und ab hetzte. Auch in folgenden, ruhmreichen Inszenierungen beherrschten permanent rotierende Maschinen die Bühne, auf denen die Schauspieler fein choreographierte Bewegungsabläufe exerzierten und, meist chorisch, Text deklamierten. Das erzeugte wuchtig abstrakte Wirkung durch Sprechkunst, perfekt rhythmisch trainierte Körperkraft, durch Lichteffekte und Musik. Ein fesselnder Zusammenklang. Jetzt jedoch will Rasche nicht länger als „Maschinentheaterregisseur“ gelten. Und wirklich, bei „4.48 Psychose“ spielen Großgeräte eher eine Nebenrolle. Die Bühne ein tiefer schwarzer Schlund, nebelverhangen. Am Boden auf der Drehscheibe vier parallele, langsam und dauerhaft bewegte Laufbänder. Auf dem Rand der Scheibe die Live-Musiker Carsten Brocker, Katelyn King, Spela Mastnak, Thomsen Merkel. Sie produzieren von Anfang bis Ende eine auf- und abschwellende, sanft- oder grellfarbige, stampfende, brüllende, zart säuselnde oder unheimlich grummelnde Klangkulisse. Es ist der Rhythmus der Verzweiflung. Der Kontrapunkt zum Crescendo und Decrescendo des Textes (Komposition und musikalische Leitung: Nico van Wersch).
Diese geradezu körperlich das Publikum packende Tonsetzung ist ein Meisterwerk. Es entspricht dem so schmerzlichen Hin und Her, Auf und Ab zwischen Bei-sich- und Außer-sich-Sein der Kaneschen Selbstanalyse. Es gleicht einem Gefühlskraftwerk. Und steht gleichberechtigt neben dem meisterlichen Text mit seiner minimalistischen Poesie, dem hochgespannten, siedend heißen oder eisigen Ton, dem philosophischen Weitwurf. Der Dichter Durs Grünbein hat alles adäquat übersetzt.
Und das Ensemble in den teils fleischfarbenen, teils schwarz transparenten Trikots (Elias Arens, Katja Bürkle, Thorsten Hierse, Toni Jessen, Jürgen Lehmann, Kathleen Morgeneyer, Justus Pfankuch, Linda Pöppel, Yannik Stöbener)? Es schreitet und tänzelt locker auf dem Laufband, kommt aus dem Dunkel, solistisch oder in Gruppe, verschwindet dorthin zurück. Die Atmosphäre wie verschleiert, wie in Trance, im Traum, durchzuckt von Text, umspannt von Klängen. Schön und schrecklich, unentwegt zerrend und ziehend an den Nerven, am Herz, am Hirn. Das ist nicht jedermanns Sache. Das muss man aushalten wollen. Schließlich gibt es in der Nebelnacht nicht viel zu sehen. Dafür umso mehr zu Hören, zu Fühlen, zu Denken. Drei Stunden ohne Pause.
Das einfach Raffinierte dieser mit heilignüchternem Ernst, mit unendlicher Empathie und Liebe gemachten Inszenierung, diesem Hohelied auf die Humanitas, ist Rasches Erfindung einer Art Partitur für die Sätze, Worte, Silben, Punkte. Kanes Extremismus der einen Liebe, der reinen Wahrheit in Kollision mit der rohen Wirklichkeit des stets schwer Getrübten – dieser Höllenqualen und heillose Verlassenheit auslösende Riss durchs Universum, dem die Autorin nicht gewachsen war, hier wird er zum bitteren, schockierenden, provozierenden Erlebnis. „Vorhang hoch“ heißt es zum Schluss. Denn auf Tod folgt Leben. Und wieder Tod.