Die Gipsformerei der Staatlichen Museen feiert ihr 200. Jubiläum. Jetzt ist sie mit einer Sonderschau in der James-Simon-Galerie präsent
„Es ist eine sinnliche Arbeit, mit dem Gips Körper abzuformen“, sagt Liane Lang vor ihrer Videoarbeit „Studio Spectres Cremer Street/Hackney“, in der sie den Objekten ihres Ateliers sehr poetisch Leben einhaucht: Ein gelber Gummihandschuh streichelt über die Brüste einer Gipsbüste, Gipsköpfe stoßen sich an und klumpige Abfälle kriechen über den staubigen, brockenübersäten Boden. „Meine Modelle lassen das gerne mit sich machen, sie machen es freiwillig.“ Im Laufe der Jahre hat die Künstlerin eine Menge Gipsabdrücke ihrer Freunde und Bekannten angefertigt, die im Video ein ironisch-schwebendes Miteinander feiern.
Gips stand auch im Dienst der Rassenlehre
Ganz anders die Objekte aus der Berliner Gipsformerei, die aus der Kolonialzeit stammen. „Hier wurden Menschen aus den Kolonien ungefragt abgeformt, um die Unterschiede der Rassen zu demonstrieren“, erklärt Veronika Tocha, die Kuratorin der Ausstellung „Nah am Leben“ im neuen Ausstellungsraum im Untergeschoss der James-Simon-Galerie. In Tondokumenten kann man nachhören, wie die Menschenmodelle damals unter Erstickungsängsten und Klaustrophobie litten, während Wissenschaftler im Dienste einer zweifelhaften Rassenlehre ihre Körper abformten.
Auch diese Schattenseite der 200-jährigen Geschichte der Berliner Gipsformerei hat in der Jubiläumsausstellung ihren Platz, „Zu nah am Leben“ ist der passenden Titel dieses Teils der Ausstellung. „Auch wenn es erst eine Bestandsaufnahme ist“, erklärt Veronika Tocha, „wir haben versucht, soweit es möglich war, die Namen der Modelle zu recherchieren, um ihnen wenigstens nachträglich etwas an Würde zurückzugeben.“ Zu sehen sind nur die Negative, also die Formen für die Abgüsse.
Die Ausstellung wartet mit mehreren Superlativen und Premieren auf. Es ist die erste Ausstellung der Gipsformerei überhaupt, obwohl diese als älteste Institution der Berliner Staatlichen (damals Königlichen) Museen bereits 1819 gegründet wurde, weil die Nachfrage nach Gipsmodellen gestiegen war und der Import aus Italien zu teuer. Die Gipsformerei ist weltweit die größte noch aktive Manufaktur ihrer Art. Für Christina Haak, die stellvertretende Generaldirektorin der Staatlichen Museen zu Berlin, ist sie die unbekannteste und verkannteste Sammlung, die es nun endlich an prominenter Stelle zu entdecken und zu rehabilitieren gilt. Und schließlich ist es die Premierenausstellung für die James-Simon-Galerie, des neuen, von David Chipperfield erbauten Eingangsgebäudes zur Museumsinsel.

Der lange, trapezförmige Saal ist mit seiner flächigen Deckenbeleuchtung eine Bereicherung für die Berliner Museen. Jetzt bietet er einer großartigen Ausstellung Platz. Empfangen wird man von raumhohen Schwerlastregalen mit plastischen Werken quer über den Globus und durch die Zeiten. Sie spiegeln auch die Sammlungsgeschichte der Staatlichen Museen wieder, von den Griechen über die Ägypter bis hin zu Barock und Klassizismus. Moderne Werke sind wegen der Urheberrechte weniger vertreten. Dafür zeigt die Ausstellung eine gut ausgewählte Reihe von Kunstwerken zeitgenössischer Künstlerinnen, die sich mit Gips und Abformungen auseinandergesetzt haben. Neben Liane Lang auch Asta Gröting, die mit einem goldenen Oderbruchacker-Abdruck und der Silikon-Abformung einer Mausoleumsmauer vom Dorotheenstädtischen Friedhof zu sehen ist. Einschusslöcher aus den letzten Gefechten des Zweiten Weltkriegs, Putz, Schmutz, Graffiti und Staub haben sich in das Silikon übertragen. Pauline M’barek zeigt zarte Artefakte in Form von Gipsschüttungen in ihre eigenen Hände. Maria Volokhova schließlich präsentiert beeindruckende Porzellanvasen aus dem Gipsabdruck eines Teufelsfisches, seines Äußeren und seines Inneren.
Eine Sammlung von 17.000 Objekten
Die Originalregale stehen am heutigen Standort der Gipsformerei in Charlottenburg und beherbergen dort die umfangreiche Sammlung von über 17.000 Objekten: Formen, Abgüsse und sogenannte Master- und Malmodelle. Aber nicht die Abgüsse, also die Ergebnisse der Manufaktur, sondern die Formen und Mastermodelle stehen im Mittelpunkt der Ausstellung, betont der Leiter der Gipsmanufaktur, Miguel Helfrich. Sie sind der Schatz der Manufaktur. Aus ihnen können 7000 Werke der Bildhauer-Geschichte nachgeformt werden. Das ist besonders interessant für Werke, die zerstört oder verschollen sind.
Thematisch ist die Ausstellung in fünf Bereiche gegliedert. Neben „Zu nah am Leben“ sind das „Stillleben und nature morte“ (gezeigt werden Abgüsse der Tier- und Pflanzenwelt), „Ultimatives Leben“ mit Totenmasken historischer Persönlichkeiten und Leihgaben aus Pompeji: die berühmten Gipsausgüsse aus Lava von Bürgern der Stadt, die beim Vesuvausbruch starben, und deren Darstellbarkeit erneut ethische Fragen aufwirft. Der Bereich „Im Künstleratelier“ zeigt Modelle berühmter Kunstwerke, die für Kunstschulen zu Schulungszwecken genutzt wurden und Abgüsse von Körperteilen, Schulmodellen der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums. Denn nichts ist so nah am Leben wie ein Gipsabdruck: jede Falte, jede Narbe, jede Pore hinterlässt einen Abdruck.
Als Meisterwerke unter Verdacht standen
Und schließlich gibt es den Bereich „Abgussverdacht“. Dieser Verdacht hat den Gips in Verruf gebracht. Einerseits sollten die Künstler seit der Renaissance möglichst nah an der Realität bleiben, andererseits war das Abformen aber verpönt. Unter Verdacht gerieten besonders perfekte Meisterwerke wie Donatellos „David“ oder Rodins „Ehernes Zeitalter“. Mit Rodin und der Moderne begann aber auch die Rehabilitation. Heute verwenden Künstler ganz selbstverständlich Abdrücke als Teil des künstlerischen Prozesses, eindrucksvoll wird das in der Ausstellung am Beispiel von George Segal gezeigt.
James-Simon-Galerie, Eiserne Brücke, Mitte. Geöffnet Fr.-Mi. 10-18 Uhr, Do. 10-20 Uhr. Mit einem Hausticket kann man die Ausstellung gemeinsam mit dem Neuen Museum besuchen (12 Euro, ermäßigt 6 Euro).