Es ist nichts los in der Provinz. Keine Perspektive, nirgends. Warum also für die Zukunft lernen? Die Jungs der Clique hängen lieber ab. Vertreiben sich die Zeit mit Männerriten, Potenzgebaren und Mutproben. Und schotten sich gegen den Rest der Welt ab. Auch gegen den Mitschüler mit Migrationshintergrund. Als dann auch noch ein Schwarzer aus dem Flüchtlingsheim auftaucht, werden die Aversionen und Aggressionen noch schärfer.
Aber da ist auch Fred, der Sohn des neuen Flüchtlingsheimsleiters. Ein blonder Hüne mit Wikingerzopf, der stärker ist als alle. Und mit dem alle befreundet sein wollen. Der ist gern gesehen in der Clique. Auch wenn der nichts gegen Ausländer und Fremde hat. Muss man die Pille halt schlucken. Zumindest eine Zeit lang.
Uraufführung in der Stadt der schlimmen Ausschreitungen
„Drachenherz“, das neue Stück von Peter Lund, das am Donnerstag in der Neuköllner Oper Premiere feierte, ist brandaktuell. Weil es von Ausgrenzung, Ausländerhass und Gewalt handelt. Die Koproduktion feierte ihre Uraufführung ausnahmsweise nicht in Berlin, sondern in Chemnitz. Weil es die Ausschreitungen dort vom August letzten Jahres verarbeitet. Und weil der dortige Opernintendant das Stück unbedingt an seinem Haus herausbringen wollte.
Lund verbindet das tagesaktuelle Thema allerdings mit einem ur-deutschen Mythos. Nicht umsonst heißt der Anführer Günni, einer seiner Mitstreiter Hagen, das einzige Mädel in der Clique Brüning, und der blonde Neue Fred. Die Analogien zur Nibelungen-Saga um Siegfried, Brünhild & Co., dem deutschen Nationalepos schlechthin, liegen auf der Hand. Die Nibelungen aber nicht als Helden-Sippe, die trotzig bis zum Untergang zusammenhält („Kein Platz für Helden“ lautet schon der Untertitel der Produktion), sondern als vorlaute Jungs von der Straße: Das ist eine gehörige Provokation.
Dazu erklingt nicht Wagner, sondern Rockrhythmen und Musicalsongs. „Drachenherz“ macht mit den Nibelungen, was „West Side Story“ mit „Romeo und Julia“ machte: den klassischen Stoff radikal auf die heutige Jugend in sozialen Brennpunkten herunterzubrechen.
Peter Lund will viel. Zu viel
Jedes Jahr schreibt Regisseur und Texter Lund, der auch Professor an der Universität der Künste ist, den Absolventen des Studiengangs Musical/Show eine Abschlussproduktion auf die Leiber. Und die sind auch mit Enthusiasmus und einer Spiellust dabei, die ihresgleichen sucht. Allerdings erreichen die Songs von Wolfgang Böhmer nie Ohrwurmqualitäten. Außerdem ist die Bühne der Neuköllner Oper deutlich kleiner als die in Chemnitz, was man den vielen Tanz- und Kampfchoreographien anmerkt. Auch der Ton ist nicht auf die Neuköllner Verhältnisse zugeschnitten, weshalb viele Liedtexte leider unverständlich bleiben.
Lund, der erstmals nicht allein Regie führte und sich auf diesem Sektor auch allmählich zurückziehen will, will viel mit diesem Stück. Zu viel. Siegfried/Fred als der „gute Deutsche“, der alle integrieren will und deshalb am Ende von allen getötet wird, was man dann auch noch dem einzigen Schwarzen in die Schuhe schiebt: Das ist starker Tobak. Aber die politischen Töne treffen nicht immer, werden auch mal vergessen und dann wieder allzu plakativ aufgetragen. Lund ist vor allem als Komödienmusical-Schreiber erfolgsverwöhnt. Mit diesem seinen bislang ernstestem Stück ist ihm leider nicht der ganz große Wurf gelungen.
Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131/133, Neukölln. Kartentel.: 68890777. Nächste Termine: Do-So, 20 Uhr. Bis 21. Juli.