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Stefan Sanderling eröffnet das Musikfestival „Crescendo“

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Volker Blech
Dirigent Stefan Sanderling auf dem Berliner Gendarmenmarkt.

Dirigent Stefan Sanderling auf dem Berliner Gendarmenmarkt.

Foto: Foto: Reto Klar

Schwarzes Schaf der Familie: Stefan Sanderling eröffnet das Musikfestival „Crescendo“ an der Universität der Künste. Ein Treffen.

Berlin. Er dirigiert mal wieder in seiner Geburtsstadt: In der Berliner Universität der Künste (UdK) eröffnet Stefan Sanderling am Freitag das Festival „Crescendo“ mit Werken von Joachim, Schreker und Brahms. Bei unserem Treffen kann der Dirigent gar nicht so genau sagen, wo gerade sein Hauptwohnsitz ist.

Der 55-Jährige und seine Frau, eine französische Cellistin, haben ihr Haus in Florida behalten und einen weiteren Wohnsitz im Fürstentum Liechtenstein. Als Chefdirigent ist Stefan Sanderling weit herumgekommen. Aber als jetzt am Gendarmenmarkt das Foto gemacht wird, erinnert er sich sofort wehmütig an seine Schulzeit um die Ecke am Grauen Kloster. „Ich werde immer Berliner sein“, sagt er.

Internationale Familie

Unter hiesigen Musikern gilt er als der amerikanische Sanderling wegen seiner langjährigen Verpflichtungen in den USA. Es ist auch nicht leicht, die Akteure dieser ungewöhnlichen Dirigentenfamilie auseinanderzuhalten. Vater Kurt Sanderling prägte einst das Orchester am Gendarmenmarkt, sein ältester Sohn Thomas hat kürzlich beim Konzerthausorchester Brahms und Weinberg dirigiert.

Der jüngste Sohn Michael Sanderling wird ab 30. Mai am Pult der Philharmoniker unter anderem Schostakowitsch „Leningrader Sinfonie“ vorstellen. Schostakowitsch ist ein Teil der Familientradition. Kurt Sanderling war 1935 als Jude von den Nazis ausgebürgert worden und nach Moskau emigriert, wo seine große Karriere begann.

Von 1942 bis 1960 wirkte er als zweiter Chefdirigent der Leningrader Philharmoniker. Dann holte ihn die DDR-Führung nach Ost-Berlin zurück, bis 1977 leitete er das damalige Berliner Sinfonie-Orchester und prägte das Schostakowitsch-Bild.

Distanz zu Schostakowitschs Musik

„Ich habe in den 90er-Jahren sehr viel Schostakowitsch dirigiert“, sagt Stefan Sanderling, „aber die Musik ist mir nicht mehr so nahe. Da bin ich in der Sanderling-Familie jetzt ein bisschen das schwarze Schaf.“ Er erklärt seine zunehmende Distanz damit, dass es eine sehr zeitbezogene Musik sei.

„Die Wichtigkeit der Musik lag für mich in der Verbundenheit mit der gesellschaftlichen Situation, mit der ich in der DDR auch groß geworden bin.“ Aber diese hervorragende Musik funktioniere nicht, so Sanderling, „wenn man darüber diskutiert, ob Apfelsinen gerade im Sonderangebot sind. Schostakowitschs Musik braucht gesellschaftliche Konflikte, sie ist gegen eine bestimmte Form der Unterdrückung geschrieben“.

Hemdsärmelichkeit der Amerikaner

Aus Amerika hat der Dirigent offenbar eine gewisse Lässigkeit, ja Hemdsärmelichkeit mitgebracht. Auf die kleineren amerikanischen Orchester lässt er im Gespräch nichts kommen. Sie seien perfekt im Erarbeiten von Werken, ihnen fehle nur die Tradition.

Ihn habe man sicherlich wegen der deutschen Tradition verpflichtet, sagt Sanderling, und auch, weil er keine plakative, sondern bekennende Musik bevorzuge. Zur Abschreckung nennt er die „Star Wars“-Filmmusik von John Williams. Er fühlt sich offenkundig mit Beethoven, Brahms und Bruckner auf der anderen Seite.

Das Eröffnungsprogramm von „Crescendo“ im UdK-Konzertsaal ist voller Bekenntnismusik, auch, was die eigenen Familienerfahrungen betrifft. Das Gespräch mit Festivalchef und Klavierprofessor Markus Groh über die Werke habe nur fünf Minuten gedauert, sagt Sanderling.

Festival erinnert an Gründung der Hochschule

Das Festival ist der Gründung der „Königlich akademischen Hochschule für Musik“ vor 150 Jahren gewidmet. Die heutige Fakultät Musik der UdK ging daraus hervor. „Es war klar, es soll etwas Größeres aus der Gründungszeit gespielt werden und mir wurde eine Brahms-Sinfonie nahegelegt.“

Die zweite Sinfonie fand er passend, gerade auch, weil die jungen Musiker des Symphonieorchesters der UdK diese Auseinandersetzung brauchen. Darüber hinaus sollte an den Gründungsvater erinnert werden. Von Joseph Joachim (1831–1907) steht die Elegische Ouvertüre, dem Andenken Heinrich von Kleists gewidmet, op. 13, auf dem Programm.

Der Brahms-Freund Joseph Joachim, der einer ungarisch-jüdischen Kaufmannsfamilie entstammte, war einer der großen Geigenvirtuosen des 19. Jahrhunderts. Über Leipzig, Weimar, Hannover kam er 1866 nach Berlin, um auftragsgemäß eine Schule für Instrumentalmusik zu gründen.

Revolutionäre Kompositionen

Beim Festival wird es am Sonnabend auch eine Diskussionsrunde geben, in der es um die zeitgleich 1869 erschienene Wagner-Hetzschrift „Das Judentum in der Musik“ geht. Stefan Sanderling war vor Jahren in Hannover beim Joseph-Joachim-Wettbewerb auf den Komponisten gestoßen. Er hält seine Musik für geradezu revolutionär.

Auch das dritte Werk des Festkonzerts soll in der Tradition der Hochschule bleiben. „Franz Schreker war der letzte Rektor, bevor die Nazis ihn vergrault hatten“, sagt Stefan Sanderling. „Ich mag seine Musik einfach sehr.“

Der Dirigent hatte ursprünglich überlegt, auch Boris Blacher ins Programm aufzunehmen. „Der war die große Figur der Nachkriegszeit, ein großartiger Komponist und Rektor.“ Blacher hatte 1953 das Präsidentenamt von Werner Egk übernommen.

Abneigung gegen Nazi-Mitläufer

Den Komponisten wiederum würde Sanderling keinesfalls aufführen. Er macht aus seiner Abneigung gegen solche Nazi-Mitläufer, wozu er auch Carl Orff zählt, keinen Hehl. „Ich schaffe es nicht, deren Musik zu hören, ohne darüber nachzudenken, wie der Erfolg erkauft wurde. Ich komme aus einem Leben, in dem man erfahren hat, dass man immer die Wahl hat, das Richtige zu tun.“ Nach seinem Berliner Konzert geht Sanderling wieder nach Liechtenstein, wo ein Konzert mit Lang Lang ansteht.