Der Pianist Grigory Sokolov ist ein seltenes Gewohnheitstier: Nur einmal im Jahr tritt er in Berlin auf – immer an einem Wochentag im Frühjahr, immer in der Philharmonie, immer mit einem Solo-Rezital. Und stets ist der Saal so schummrig beleuchtet, dass Sokolov selbst gerade noch die Tasten des Steinway-Flügels erkennen kann. Viel wichtiger allerdings: Das Publikum kommt dabei gar nicht erst auf die Idee, im Programmheft zu blättern. Es ist gezwungen, sich gemeinsam mit Sokolov in die Musik zu versenken.
Und wer das dann doch nicht ganz schafft, kann sich sicher sein: Kein raschelndes Bonbon-Papier wird den russischen Pianisten aus der stoischen Ruhe bringen. Immun wirkt er auch gegen fiepende Hörgeräte und gegen Zuhörer, die ihr Handy nicht unter Kontrolle haben. Neu aber ist nun an diesem Abend, dass eine unerfahrene Sokolov-Verehrerin mehrmals versucht, ihm einen Blumenstrauß zu überreichen – natürlich ohne Erfolg. Denn auch seinen Zugaben-Block absolviert Sokolov mit so hoher Konzentration, dass für nett gemeinte Äußerlichkeiten keinerlei Platz bleibt.
Sechs Zugaben wie in jedem Jahr
Und wie jedes Jahr sind es auch jetzt wieder sechs Zugaben. Doch diesmal wirken sie etwas bunter zusammengestellt – fast so, als wolle Sokolov seinen eigenen Blumenstrauß fürs Publikum binden. Darunter Rameaus exzentrisch-lebhafte „Les sauvages“ und Chopins a-Moll-Mazurka op. 68 Nr. 2, zwei typische Sokolov-Encores der vergangenen Jahre. Aber auch zwei ältere Bekannte sind diesmal dabei: Rachmaninoffs gis-Moll-Prelude op. 32 Nr. 12 und Debussys „Schritte im Schnee“. Dagegen knüpfen Schuberts As-Dur-Impromptu D 935 Nr. 2 und Brahms’ Intermezzo op. 117 Nr. 2 direkt ans offizielle Programm an.
Ein Programm mit Beethovens eher lockergefügten, skizzenhaft anmutenden Bagatellen op. 119 in der Mitte, flankiert von Beethovens früher C-Dur-Sonate op. 2 Nr. 3 und Brahms‘ späten, grüblerischen Intermezzi. Und was soll man sagen? Bereits im Kopfsatz der Beethoven-Sonate breitet Sokolov einen musikalischen Reichtum aus, wie man ihn von anderen Pianisten sonst an einem ganzen Abend nicht erlebt.
Verborgene Zusammenhänge werden deutlich
Es ist ein Beethoven-Spiel von hypnotischer Kraft und Intensität. Und zugleich ein Ohrenöffner für bislang verborgene Details und verborgene Zusammenhänge. Denn so sehr sich Sokolov in diese C-Dur-Sonate versenkt, so sehr er seinen romantisch gefärbten Ton singen lässt: Sein Geist ist hellwach, sein analytischer Scharfsinn unbestechlich.
Minutiös geplant auch die Brahms-Intermezzi op. 118 und op. 119 nach der Pause. Und gerade das ist Sokolovs große Kunst – nämlich so viel Intuition und Persönlichkeit in diese minutiöse Planung einfließen zu lassen, dass sie vom Publikum kaum mehr als Planung wahrgenommen wird. Was bei Brahms nun zusätzlich fasziniert: die inneren Kräfte, die Sokolov hier entfesselt. Und der Kontrast zwischen schicksalhaften Klanggebirgen und tröstlichen Traumtäler.