Berlin. Ein Begriff ist es vor allem, den wir mit Charles Darwin, dem Begründer der Evolutionstheorie, verbinden. Dabei stammt er nicht einmal von ihm. Im englischen Original lautet er „Survival of the fittest“. Übersetzt heißt es: „Das Überleben des …“ – ja, wessen Überleben eigentlich? So klar ist das nicht in der deutschen Sprache. Etwa des Stärksten, des Gesündesten, des Klügsten? Eine Überlebensfrage, bei der es um mehr geht als um Wortklauberei.
Wir lesen den Begriff in Darwins berühmtesten Buch, in dem er uns – nach jahrelanger Forschungsweltreise – die Systematik erklärt, in der sich das Leben entwickelt, auf Basis welcher Naturgesetze sich Tier- und Pflanzenarten ausgebildet haben. Insbesondere aber, wie sie sich stets wandelnden Bedingungen anpassten, durch Änderung ihrer Merkmale über unzählige Generationen – oder ausstarben, das Überleben nicht schafften. „On the Origin of Species“, lautet sein Titel, in der deutsche Ausgabe „Die Entstehung der Arten“ – oder jetzt, seit November 2018, „Der Ursprung der Arten“. Wir sehen auch hier: Es ist sprachlich manches interpretierbar, derzeit einiges im Fluss bei dem Buch, das in seiner weltweiten Wirkmacht gerade noch von der Bibel oder dem Koran übertroffen wird, „Das Kapital“ von Karl Marx aber abhängt. Sprache ist im Wandel, wenn ein solches Jahrhundertbuch einer Neuübersetzung unterzogen wird, wie es bei Darwin jetzt der Fall ist.
„Bodybuilder haben eher weniger Nachkommen“
Zurück zur „Überlebensfrage“. Als Darwin 1859 – im Alter von 50 Jahren – seinen 600-Seiten-Bestseller vorlegte, kannte er den Begriff „Survival of the fittest“ noch gar nicht. Erst in späterer Auflage fügte er ihn ein, als Ergänzung zur Überschrift des vierten Kapitels „Natural Selection“. In der bisher gängigen Übersetzung des 1939 verstorbenen Carl W. Neumann lautete der Titel dann „Natürliche Zuchtwahl oder Überleben des Tüchtigsten“. Denkwürdige Worte angesichts der begleitenden Diskussion, inwieweit seine Naturgesetze genauso für die menschliche Biologie oder sogar Beziehungswelt gelten sollen. Im Extremfall auch als Leitlinie, bis hin zur Idee von „Lebensborn“-Zuchtanstalten der SS und Euthanasie im Dritten Reich. Die Formulierung war kein Zufall.
Die Formel „Survival of the fittest“ hatte der englische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer 1864 in die Diskussion um Darwins Werk eingeführt, als das seiner Ansicht nach dahinter schlummernde Prinzip. Spencer gilt als Begründer des „Evolutionismus“, dessen Vertreter von unterschiedlicher Wertigkeit menschlicher Gesellschaften ausgehen. Eine Denkrichtung, die für manche den Kolonialismus rechtfertigte. Die aber vor allem als Vorläufer gilt für den „Sozialdarwinismus“ – die umstrittenste Variante der Lehre des großen Naturforschers, weil sie nicht nur beschreibt, sondern Normen setzen will. Konnte man es also so stehen lassen, das mit der „Zuchtwahl“ und dem Überleben des „Tüchtigsten“, oder auch des „Stärkeren“, wie es in anderen Übersetzungen hieß?
Der Evolutionsforscher Josef Reichholf hat mitgearbeitet an der Neuauflage von Darwins Hauptwerk mit der vollständig neuen Übersetzung durch Eike Schönfeld. Als eine der wichtigsten geänderten Begrifflichkeiten nennt er denn auch jene Stelle mit dem „Tüchtigsten“. Die Überschrift lautet nun: „Natürliche Selektion oder das Überleben der am besten Angepassten“. Eine etwas ungelenke Formulierung, die aber Darwin vor falscher Vereinnahmung durch Prädikate wie Tüchtigkeit, Kraft, Größe schützen soll. „‚Survival of the fittest‘ ist ja nicht mit dem Recht des Stärkeren gleichzusetzen“, sagt Reichholf. Mit Fitness im Sinne von Fitnessstudio habe das sowieso nichts zu tun: „Bodybuilder haben eher weniger Nachkommen, wenn überhaupt“, sagt Reichholf. „Sozialdarwinismus jedenfalls ist eine Verdrehung dessen, was Darwin darstellen wollte.“
Aber lässt sich Darwin wirklich völlig loslösen vom Sozialdarwinismus, den heute nur Außenseiter vertreten? Gewiss: Als Norm distanzierte er sich von ihm. Doch 1871 schrieb er: „Mit Ausnahme des den Menschen selbst betreffenden Falls ist wohl kaum ein Züchter so unwissend, dass er seine schlechtesten Tiere zur Nachzucht zuließe“, und erwähnt, fast etwas resignierend, den „Instinkt der Sympathie“, der allein den Mensch veranlasst, den hilflosen Artgenossen zu helfen. „Man kann es mehr hoffen als erwarten, wenn die an Körper und Geist Schwachen sich des Heiratens enthielten.“
Reichholf räumt ein, Darwin sei eben auch vom 19. Jahrhundert geprägt gewesen. „Alle Menschen, auch die heutigen, sind Kinder ihrer Zeit, manches wird heute in die andere Richtung übertrieben.“ So oder so, „am besten angepasst“ klingt offenbar am wenigsten nach „Recht des Stärkeren“. Für Reichholf steht der Diskurs über den Sozialdarwinismus sowieso erst an zweiter Stelle bei den Beweggründen für die Neuübersetzung. Entscheidender ist für ihn die andere Front, an der Darwin bestehen muss. Dort steht man dem „Erstarken des religiösen Fundamentalismus“ gegenüber, „nicht nur in der islamischen Welt, sondern insbesondere in Amerika“. Erfahrungsgemäß schwappe alles, was sich in den USA ausbreite, mit Verzögerung dann auch zu uns herüber.
Der „Kreationismus“ als extremste Form der Bibelgläubigkeit, quasi der „Anti-Darwin“, predigt die Lehre, nach der Gott alle heute lebenden Arten, wie es in der Heiligen Schrift steht, in sieben Tagen schuf. Laut einer Umfrage glauben 42 Prozent der US-Amerikaner, dass alle Arten seit der Schöpfung in der heutigen Form existieren. Von einer Evolution wollen sie auch heute nichts wissen.
Ein Einspruch gegen die Lehren der Kreationisten
Reichholf fürchtet, dass auch in Deutschlands Kirchen nicht alle Wortführer gegen solche Gedanken vollends gefeit sind. Um aber den Kreationisten, wenn sie erst hier an Einfluss gewinnen, wirksam mit den Argumenten der Wissenschaft begegnen zu können, sei es wichtig, dass ein so grundlegendes Werk wie der „Ursprung der Arten“ in moderner Sprache zur Verfügung stehe. Deshalb ist so gut wie kein Buchstabe neben dem anderen geblieben, es ging dabei eher nicht um die Korrektur einzelner Aussagen, vielmehr um den Duktus des 21. Jahrhunderts. Beim Titel allerdings auch um Präzisierung. „Der Ursprung der Arten“ ist einfach die bessere Übersetzung als „Die Entstehung …“. Eine wesentliche Richtigstellung, ging es Darwin doch darum, das Grundlegende der Evolution seit ihrem Beginn – vor Milliarden Jahren, wie wir heute wissen – darzustellen, nicht den jeweiligen Werdegang der verschiedenen Spezies.
Der Inhalt, selbstverständlich, blieb auf dem Stand der Ausgaben aus Darwins Zeit. Natürlich muss heute sein Gerüst ergänzt werden, nach 160 Jahren biologischer Vererbungsforschung. Ergänzt zum Beispiel um die Erkenntnisse der modernen Genforschung. Auch um die neuen Möglichkeiten zur Geschlechterwahl und zur Ausschaltung von Erbkrankheiten.
Darwin hat nicht einmal die Vererbungslehre Mendels berücksichtigt, dessen Schrift er zwar besaß, sie aber verpackt ließ. Angesichts dessen ist es erstaunlich, wie sehr viele seiner Aussagen noch immer gelten – wobei immer noch nicht restlos geklärt ist, inwieweit etwa vorteilhafte Eigenschaften, die ein Individuum in seinem Leben erwirbt, vererbt werden können. Darwin hatte die Theorie Jean-Baptiste de Lamarcks noch rundum abgelehnt, nach der eine Giraffe, die sich auf der Suche nach Baumblättern immer mehr streckt, ihren allmählich längeren Hals an ihr Kind weitergibt. Lange Zeit gab man hier Darwin recht. Heute weiß man, dass Lamarck im Grundsatz nicht vollkommen danebenlag. So oder so, ob Individuum oder Art: Die besten Überlebenschancen hat der Fitteste – nein, der „am besten Angepasste“.
Charles Darwin, Der Ursprung der Arten. Klett-Cotta, 612 Seiten, 48 Euro.