Für die Tiere sieht es wieder einmal gar nicht gut aus in Helene Hegemanns neuem Roman. Musste in ihrem Debüt „Axolotl Roadkill“ (2010) ein freundlicher Schwanzlurch Namen und Leben lassen, um als Titel herzuhalten, waren drei Jahre später mit „Jage zwei Tiger“ die Großkatzen dran. Auf dem Cover von „Bungalow“ (Hanser Berlin, 288 Seiten, 23 Euro) verdeckt nun wütendes, schwarzes Gekritzel allerlei braves Getier, einen Fuchs, ein Kaninchen, Singvögel.
„Eine neue Religion braut sich zusammen. Aus Überresten“
Hegemann stellt dieses unheimliche Zitat aus Elias Canettis „Buch gegen den Tod“ ihrem Roman als Motto voran. Und schon bald, wenn man mit der Icherzählerin in einer namenlosen Stadt über die Resthalden ihrer Erinnerungsfetzen aus Jugendtagen steigt, stellt sich heraus: Nicht die Tiere will sie ausradieren, auch wenn diese ohne nähere Erklärung ständig als Kadaver irgendwo im Stadtbild herumliegen. Was sie ausgemerzt sehen will, ist das Scheinlebendige. Oder auch nicht, denn es gibt kaum etwas, was sie nicht anschließend genauso überzeugend zurücknimmt.
Oder sie nimmt Gesagtes gar nicht zurück, sondern enttäuscht nur die Erwartung, mit einer Beschreibung schon eine Wertung abgegeben zu haben. Das macht Hegemann schon im ersten Satz so: „Ich war siebzehn, wir durften das Haus nicht verlassen wegen Ozonwarnung“, da mag man sich als Leserin denken, schlimm, Klimakatastrophe! Aber der Satz geht weiter: „Hitzefrei für Erwachsene, mir gefiel das immer.“ Ist vielleicht nicht alles schlecht am Weltuntergang, so in der Rückschau oder aus Kindersicht.
Jugendslang nur noch sparsam
Dieses amoralische Schwanken zwischen Schrecken und hüpfendem, absurdem Glück prägt den ganzen Roman. Es geht wieder um ein Mädchen aus dysfunktionalem Hause, diesmal mit dem offensiv androgynen Vornamen Charlie, und wer schon einmal pubertiert hat, weiß, dass in jenem Alter manche Überzeugungen und Attraktionen eben keine allzu lange Haltbarkeit besitzen. War in „Axolotl Roadkill“ immer alles Mögliche „am Start“, zum Beispiel kein Klopapier mehr, verwendet die 1992 geborene Berliner Autorin jetzt den Jugendslang nur noch sparsam, bis auf die Vorsilbe „Scheiß-“, aber die ist oft kein Fluch, sondern eine Betonung. Auch „echt“ ist vieles. Was zur Jahrtausendwende im Fernsehen läuft, wird genauso ernst genommen wie die „realen“ Erlebnisse, aus denen das ältere Ich seine Welt konstruiert.
Apokalyptisch unaufgeregt – falls so etwas geht – erzählt Hegemann, wie sich Charlie in ein Schauspielerpaar verliebt. Georg und Maria leben in einem schicken Bungalow, den Charlie von ihrer abgeranzten Wohnung aus wie besessen beobachtet. Elegant, sexy und gebildet, verkörpern die beiden das Gegenkonzept zur Welt des Mädchens mit seiner Alkoholikermutter, und es will und muss diese andere Welt zu seiner machen. Die Menschheit, sinniert Charlie in sozialkritischem Furor oder aus Langeweile, „war im Grunde eine einzige Obszönität“: Der Teil der Menschheit, zu dem das Paar gehörte, „hatte Appetit auf argentinisches Büffelfilet und machte Urlaub in Umbrien, der andere Teil war arm und gelangweilt, und zu dem gehörte ich, wir waren Speere der Verdammnis, Mythos, Geschichte, Stille, Verwandlung, Moskau, Rom, Paris, Berlin.“
Hegemann immer noch markant
Nicht mehr ganz so mit der Faust ins Gesicht, aber immer noch markant baut Hegemann mit diskursivem Chic behangene René-Polleschismen in ihr Erzählen ein. Maria fragt nicht, „was meinst du damit?“, sondern „was implizierst du damit?“ Popkulturell versiert und mit bildungsbürgerlichen Versatzstücken jonglierend, spricht Charlie vom „mindfuck bezüglich eines Zeitalters“, mit dem „niemand gelernt hatte umzugehen“. Punk sei genauso tot wie Euripides. Woran soll da ein junger Mensch noch glauben?
Charlie aber schafft es, sich ein Ziel zu setzen, nämlich die grassierenden Selbstmorde und den anstehenden, nicht näher erläuterten Krieg von ihren Lieblingsmenschen fernzuhalten. Weil die halt ziemlich „gut im Bett“ seien, eine Kategorie, deren völlige Unwichtigkeit sie vorher übrigens dargelegt hatte. Zwischen Teenie-Tunnelblick und Kapieren des großen Weltganzen erprobt „Bungalow“ das Überleben bei zunehmender Egalheit des Überlebens, und das war im Grunde schon im Roman „Axolotl Roadkill“ so, der mit dem unschlagbar schönen Satz begann: „O. k., die Nacht, wieder mal so ein Ringen mit dem Tod.“ In „Bungalow“ hört das Ringen fast auf, es reicht, sich eine lebensrettende, instinktive Angst zu bewahren, indem man etwa keine Psychopharmaka schluckt.
Mit ihren wie immer klugen Beobachtungen verspricht Hegemann, aus der anhaltenden Katastrophenstimmung der Gegenwart neue Funken zu schlagen. Doch auch diese Erwartung versteht sie zu enttäuschen. Zwischen all den Krassheiten und deren Rücknahmen implodiert der anfangs im Untergrund dröhnend angekündigte Weltuntergang zum lapidaren Hintergrundrauschen.