„Lohengrin“ zum Auftakt in Bayreuth: Zwischen Mottenkiste und starken Bildern

    Das Gottesurteil wird hoch in der Luft ausgefochten. Der Schwanenritter reißt Telramund einen Flügel aus. Dieser wird mit einer Nadel an die Gerichtseiche gespießt. Lohengrin fällt in der Neuinszenierung von Richard Wagners gleichnamiger Oper bei den Bayreuther Festspielen unter die Motten. Das Publikum bejubelt nach der Premiere die Sänger und das Dirigat von Christian Thielemann. Aber für die Regie gibt es den höflich-kürzesten Applaus seit Langem in der Geschichte des Grünen Hügels. Selbst die vereinzelten Buh-Rufer haben keine Lust, sich anzustrengen, dafür bietet die Produktion zu wenig Reibungsfläche. Das liegt weniger an den starken Bildern von Neo Rauch und Rosa Loy, sondern an Regisseur Yuval Sharon. Der ist offensichtlich damit überfordert, die Geschichte in Bewegung, in Personenführung, zu übersetzen. Der Chor steht so steif herum wie in Bayreuth seit Jahrzehnten nicht mehr. Willkommen in der Mottenkiste des Theaters.

    Eine Trafostation dominiert die Bühne wie ein Tempel. Sie mag von einer überlegenen Zivilisation vor Urzeiten in Brabant vergessen worden sein. Das Volk versteht die Phänomene der Elektrizität nicht, wird aber davon angezogen wie die Motten vom Licht. Daher haben König Heinrich, Telramund, Ortrud und Elsa Flügel und zittern mit den Händen wie die Nachtfalter mit ihren Fühlern. Nach dem genialen Bayreuther Ratten-„Lohengrin“ von Hans Neuenfels sind also Tiere im Rennen. Aber die Motten haben es schwer, auf Fallhöhe zu kommen.

    Bilder von großer Suggestionskraft entstehen

    Neo Rauch und Rosa Loy stellen ihr Trafo-Häuschen in den Blauraum eines gemaltem Rundhorizonts. Es sind gigantische Flächen, die das Künstlerpaar mit fantastischen Landschaften füllt, allein der Verwandlungsvorhang zum zweiten Akt geht über die komplette Portalbreite der Bühne von 13 Metern mit zwölf Metern Höhe. Die Szenen zitieren assoziativ Stimmungen von anderen Künstlern, Seestücke von Emil Nolde, Pieter Breugels lebenspralle Milieus aus dem ländlichen Flandern und die rätselhaften, blitzumtosten Häuser Friedrich Mecksepers.

    So entstehen Bilder von großer Suggestionskraft. Die müssen allerdings mit Handlung gefüllt werden. Das scheint nicht so kompliziert, denn Lohengrin landet wie ein Kosmonaut mit einer kantigen Flugmaschine auf dem Dach des Trafo-Häuschens. Der Erlöser kommt auch in eigener Mission. Er ist bedürftig. Elsa braucht er ebenso sehr wie diese ihn.

    Der wunderbare, klanggewaltige Chor ist die Schaltstelle im „Lohengrin“. Die Massen spiegeln alle Krisen der Protagonisten unmittelbar und wandeln sie in politische und gesellschaftliche Energie um. Yuval Sharon hat, scheint es, wenig Erfahrung damit, weit über 100 Sängerinnen und Sänger sinnvoll zu choreographieren. Der Rundhorizont ermöglicht zwar eine akustisch optimale doppelchörige Aufstellung, aber selten hat sich ein Chor in der neueren Festspielgeschichte so wenig bewegt.

    Auch die Protagonisten bleiben blass. Ortrud zum Beispiel soll dem Konzept zufolge keine diabolische
    Intrigantin sein, sondern eine Katalysatorin für Elsas Emanzipation. Abgesehen davon, dass diese Lesart für den Konflikt überhaupt nicht funktioniert, bringt sie auch die große Sängerin Waltraud Meier in Schwierigkeiten. Denn man kann die Ortrud nicht wie eine nette große Schwester singen, selbst wenn man sie so spielen muss. Waltraud Meier, vom Publikum für ihre Rückkehr auf den Hügel gefeiert, legt all ihre Leidenschaft und Menschenkenntnis in diese Partie, und so gelingt ihr eine Ortrud, die nicht aus Bosheit, sondern aus Frustration über ihren Machtverlust zur Zündlerin wird.

    Tomasz Konieczny hat es als Telramund demgegenüber schwerer. Sein Bariton ist zwar so dunkel und dämonisch, wie es die Rolle verlangt, aber er übersteuert häufig und man versteht ihn nicht. Bass Georg Zeppenfeld findet hingegen für den König Heinrich feine lyrische Bögen und singt exzellent textverständlich.

    Piotr Beczala erweist sich wenig überraschend als allererste Wahl, wenn Bayreuth einen Lohengrin zu besetzen hat. Sein Schwanenritter ist hinter der Heldenattitüde ein Suchender, der mit Kontrollmätzchen wie dem Frageverbot seine Unsicherheit überspielt.

    Anja Harteros singt die Elsa zunächst recht schlank und scharf als junge Prinzessin. Auf dem Weg vom Mädchen zur Frau gewinnt ihr Sopran an Fülle und Volumen, an sinnlichem Glanz und goldenen Lichtreflexen.

    Christian Thielemann dirigiert sich mit dem „Lohengrin“ in den Olymp der Bayreuth-Maestros. Denn damit hat er alle zehn der bei den Festspielen aufgeführten Wagner-Opern geleitet, was zuvor nur Felix Mottl (1856–1911) gelungen ist. Seine Interpretation dieser romantischsten aller Wagner-Opern überrascht und beglückt gleichermaßen. Denn Thielemann wählt eben kein romantisches Pathos, sondern lässt die Partitur durchscheinend leuchten und horcht immer wieder die Grenzen zum Impressionismus aus. Das klingt schnell außergewöhnlich spannend.