Berlin. Die Durststrecke für Helene-Fischer-Fans ist überstanden: Nach den fünf abgesagten Hauptstadt-Konzerten im Februar – sie lag wegen einer akuten Atemwegsinfektion flach – stand die Sängerin am Sonntagabend wieder auf einer Berliner Bühne und dann auch noch auf der größten.
Die Enttäuschung ist vergeben und vergessen, als das Heiligtum Helene die Herzen ihrer Hitparadenliebhaber zum Beat von „Flieger“ zum Schlagen bringt und das Publikum mit „Ihr Lieben, wir freuen uns wahnsinnig auf euch - denn heute Abend soll euer Sommermärchen wahrwerden“ begrüßt.
Kurz davor war auch Klaus Wowereit im Publikum zu sehen, der von einer Bekannten mitgebracht wurde und gutgelaunt sagte: „Sie bringt Schlager auf ein neues Niveau.“
Mit einer eklektischen Pop-Orgie, die sich an unter anderem an Coldplay, Marius Müller-Westernhagen und den eingängigsten Beats der 90er bedient, versetzt sie um die 55.000 Fans im Olympia Stadion in einen frenetischen Zustand, der ihnen das Gefühl gibt: Auf der Stadion Tour 2018, im Jetzt und Hier, ist das Leben ein Ponyhof, eine Disco – eine „Achterbahn“.
Sind die Texte von Fischer so einzigartig und eindringlich, dass sie die Zeiten überdauern werden? Sicher nicht! Aber wer braucht die Ewigkeit, wenn er den Moment haben kann. Spätestens als die erfolgreichste deutsche Sängerin „Und morgen früh küss ich Dich wach“ anstimmt, liegen sich alle in den Armen, ob Hardecore-Helene-Verehrer oder skeptisches Mitbringsel.
Keine andere Musikrichtung, sei es Jazz, Klassik oder Hip-Hop, vermag Menschen unterschiedlichster Couleur zu vereinen. Das schafft nur Schlager. Und vielleicht noch ein Fußballspiel, bei dem der Hertha-Fanschal Berufs- und Kontostand egal macht. Kein Wunder also, dass Helene Fischer auch dieses Jahr wieder auf dem Thron der deutschen Albumcharts sitzt.
Vergangenen Donnerstag veröffentlichten die Marktanalysten von GFK Entertainment die aktuellen Zahlen zur ersten Jahreshälfte: Helene Fischer führt, wie bereits 2017, die Album-Charts. Der britische Barde Ed Sheeran ist an der Spitze der Single-Charts. Und in diese Riege der Superstars gehört Fischer auch zurecht.
Nichts ist mehr übrig von der zart-zahmen Schlagerfee, die mit seichten Liedern nur Volksmusik-Ultras zum Schmachten bringt. Auf der Bühne steht ein Vollprofi, der sich hinter internationalen Superstars wie Beyoncé nicht verstecken muss.
Ähnlich wie der US-Star arbeitet die gebürtige Russin nur mit den Besten zusammen. Die Akrobaten, Musiker und Backgroundtänzer liefern auf der Bühne eine derart gute und vor allem sportliche Leistung ab, dass man sich zu Teilen fragt, ob man hier nicht doch versehentlich bei der Halbzeit-Show des Super Bowls gelandet ist.
Und es ist vor allem eines, nämlich verdammt unterhaltsam: Für Kenner des Genres ist die Inszenierung ein Volltreffer und wer Schlager hasst, dem wird hier immerhin so eine deftige Dröhnung verpasst, dass ihm das ständige Übertreten seiner Schmerzgrenze einen durchgängigen Adrenalinkick bereitet.
Immer wieder beschwört Fischer ihre Anhänger mit der Anrede „Ihr Lieben“. Das tat sie schon früher und dabei stellte sich tatsächlich ein Verbundenheitsgefühl mit der Künstlerin ein, als säße man bei ihr mit einem guten Drink auf der Couch – nur eben gemeinsam mit tausenden anderen.
Das gigantische Ausmaß ihrer aktuellen Show und die überdimensionale Outdoor-Venue schwächen diesen Effekt nicht ab – die Leute tanzen in Polonesen durch das Stadion und werfen alle Körperteile von sich, sobald Helene einmal lasziv die Hüften bewegt. Besonders sympathisch: Ein kleiner Textaussetzer im Song „Die Hölle morgen Früh ist mir egal“ wird von Helene so charmant aufgegriffen, dass die Unperferktheit sie dem Publikum noch näher bringt.
Bei all der Bombastik bleibt nur ein einziger Makel zu vermelden, den Helene Fischers Karriere aufweist: Sie hat Songs, die pure Euphorie Versprühen, sie hat Lieder, die charmant und süß erklingen, sie hat wilde Refrains, die vollere Erotik glühen. Aber ihr fehlt der eine Hit in Moll, der kein Auge trocken lässt, weil er auch ganz ohne Show, einfach durch pure Melancholie besticht.
Udo Jürgens hatte „Merchi, Cherie“, Reinhard Meys „Über den Wolken“ oder Peter Maffays „Die Liebe bleibt“ – aber so wie wir Helen Fischer kennen, wird sie uns bestimmt auch in dieser Hinsicht eines Tages überraschen.
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