Es kommt nicht so oft vor, dass man zu einem Pressegespräch eingeladen wird, schon einmal Platz nehmen soll, und der Journalistinnenblick fällt als Erstes auf einen Gynäkologenstuhl. Kleine Schrecksekunde. Nein, das ist natürlich nur ein Requisit. Wir befinden uns auf der winzigen Probebühne des Berliner Ensembles (BE), denn Regisseur Kay Voges, Intendant des Schauspiels Dortmund, probt hier gerade ein Stück, das er lieber vorab schon einmal erklärt.
Der 46-Jährige, sein Dramaturg und Co-Autor Alexander Kerlin sowie Mario Simon, Leiter der Videoabteilung, sitzen an einem kleinen Tisch, umgeben von Monitoren. Hinter ihnen teilt sich das noch unfertige Bühnenbild in zwei fast identische Räume: In dem einen steht ein Krankenhausbett, in dem anderen besagter Behandlungsstuhl. Tatsächlich geht es hier um ein Theaterbaby, das erst noch geboren werden muss, eigentlich aber um Theaterzwillinge: Einer soll am 15. September in Dortmund, der andere gleichzeitig in Berlin das Rampenlicht der Welt erblicken.
Die Schauspieler werden zu einer virtuellen Einheit
Ob dieses Doppelwesen eine Art Monster oder eine Lichtgestalt sein wird, weiß noch keiner so recht. Aber es hat schon einen Namen: „Die Parallelwelt“. Wer Regiearbeiten des gefeierten Dortmund-Intendanten Kay Voges kennt, dem dürfte das Spiel von einander durchdringenden Vor-, Neben-, Drunter- und Drüberwelten vertraut sein. „Die Borderline Prozession“, 2017 beim Berliner Theatertreffen, trägt den Untertitel „Ein Loop um das, was uns trennt“. In „Das 1. Evangelium“, das die Volksbühne aus Stuttgart übernimmt, flutet Voges die Bühne mit Filmzitaten und Bibelstellen.
Klingt anstrengend, und doch ist danach oft von „beglückendem“ und „schönem“ Theater die Rede, von der Vereinbarkeit von Spaß und Komplexität. Für „Die Parallelwelt“ dreht Voges die Komplexitätsschraube aber noch etwas weiter: 14 Schauspieler, sieben aus Dortmund, sieben vom BE, haben in Berlin gerade vier Wochen lang gemeinsam geprobt. Nach den Theaterferien arbeiten sie getrennt, um zur Premiere mittels live projizierter Ton- und Bildaufnahmen in Kino-Qualität zu einer virtuellen Einheit zusammengeführt zu werden.
Die Handlung ist simpel: Ein Mensch wird geboren, einer stirbt. Das Leben besteht aus sieben Stationen, von der Geburt über den Spielplatz, die erste eigene Wohnung, die Hochzeit, das zigste Weihnachtsfest, das Altersheim bis zum Tod. „Diese Stationen werden aber nicht linear erzählt, sondern gegenläufig und gleichzeitig“, erklärt Voges. „In Dortmund beginnt die Geschichte mit dem Ende, in Berlin mit dem Anfang. Wir werden ein Leben parallel erzählt bekommen, und in der Hochzeit wird es eine Vereinigung geben. Und diese Vereinigung ist nicht nur eine zwischen zwei Menschen, sondern auch eine von zwei Ensembles, die sich begegnen, und die auf einmal gerade die gleiche Szene spielen.“
Wie kommt man auf so eine Idee? Voges, der in jungen Jahren schon radikaler Christ, Punkmusiker, Filmvorführer und Heimleiter gewesen sein soll, erzählt, wie er einmal mit 18 zum ExFreund seiner neuen Freundin gefahren sei, um ein paar Sachen aus dessen Wohnung zu holen. „Er hatte die gleichen Bücher im Regal stehen, die gleichen Schallplatten, und dann auch noch die gleichen Poster an der Wand. Oje, ob es mich wohl zweimal gibt auf der Welt? Das fand ich erschreckend!“
Wenn es nach Voges geht, dürften wir Vollzeitvernetzten ohnehin alle längst routinierte Parallelweltenbewohner sein, auch wenn alle derzeit wie besessen von Grenzen redeten: „Der Kapitalismus hat ja keine Probleme mit Parallelwelten, wenn man sich die Starbucks-Filialen in Russland oder Mexiko ansieht.“ Für Voges weniger ein Grund zur Resignation als zur Inspiration. Über das Selbstverständliche kann er sich noch wundern, dem vermeintlich Banalen poetisches Potenzial abgewinnen. Er sei eben durch und durch Romantiker, bescheinigt ihm Kerlin. Wenn Voges spricht, verstolpern sich seine Sätze nie in Hastigkeit, sondern schreiten fast gemütlich alle gedanklichen Untiefen und schwindelnden quantenphysikalischen Höhen ab, die ihm und seinem Mitdenker Kerlin so in die Quere und in den Sinn kommen.
Die große Frage, die ihn umtreibt, lautet: „Wie definieren wir heute Raum?“ Voges rüttelt damit an der Vorstellung von Theater als etwas, „wo Zuschauer und Darsteller sich Zeit und Raum teilen“. Den virtuellen Raum will er genauso ernst nehmen wie den realen. „Wir werden deshalb in einem Raum spielen, der in Berlin ist und in Dortmund. Und der per Glasfaserkabel in Lichtgeschwindigkeit zwischen beiden Städten hin und her rauscht.“ Klar, so etwas habe es längst in der Bildenden Kunst gegeben, im Theater aber sei das „Pionierarbeit“.
An zwei Orten gleichzeitig zu inszenieren, brauche allerdings „doppelt so viel Zeit“. So werde „Die Parallelwelt“ wohl kein Abend castorfschen Ausmaßes, „eher normal lang“. Am Ende geht es ihm aber doch um den Glauben. „Alles läuft auf die Frage hinaus: Welcher Dimension glauben wir? Den anwesenden Schauspielern oder den Leinwänden? Natürlich werden die Spieler in Berlin sagen: Wir sind das Reale! Ihr seid nur unser Hintergrundbild. Und dann werden die Dortmunder sagen: Ja ja, das meint ihr so, aber aus unserer Perspektive sind wir ziemlich real. Wir haben ja auch 500 Kronzeugen im Publikum, die sehen können, dass wir 3-D sind. Ihr seid der Hintergrund!“ Für das Publikum gelte dasselbe, „und vielleicht haben beide Seiten unrecht“. Wer es an beiden Orten überprüfen will, für den soll es vergünstigte Kombitickets geben. Für zwei Besuche hintereinander.
Premiere im BE und in Dortmund am
15. September. Vorverkaufsbeginn: 10. Juli.